Es ist ein nebliger, kalter Tag in Slovenska
Bistrica. Der kälteste Tag seit dem Herbstbeginn. Die Abgaswolken der Autos
bleiben noch eine Weile in der Luft hängen, nachdem sich die Wagen bereits aus
dem Staub gemacht haben. Miklos Vamos lässt keine Spuren zurück. Nachdem er auf
der Hauptstrasse Richtung Ljubljana aus meinem Blickfeld entschwunden ist
scheint es, als hätte die kalte Luft ihn bereits verschluckt. Ihn, sein Fahrrad
und sein gesamtes Hab und Gut. Dort wo er war, dort bleibt nichts von ihm
zurück und dorthin wo er fährt, da erwarten ihn im besten Fall ein paar
trockene Kleider, etwas zu Essen und nicht ganz zu ende gerauchte Zigaretten;
aus dem Müll gefischt, vom Boden aufgelesen. Schweren Herzens sehe ich ihn
davon gehen, sein voll gepacktes und massiv schweres Rad neben sich
herschiebend und ich kann mir selber nicht genau erklären, was für eine
Begegnung mir während den letzten vierundzwanzig Stunden zugefallen ist.
Miklos Vamos habe ich am Mittwoch in Lendava
kennen gelernt, nachdem ich unser Auto beim Mechaniker Janez abgestellt hatte
und mich per Rad auf den Weg zurück nach Trimlini machte. Fast wäre ich mit dem
Rad in ihn hinein gefahren. Miklos stand an der Auffahrt zur Autobahn, vertieft
in eine seiner Reisetaschen. Neben sich ein Gefährt von beinahe urzeitlichem
Ausmass. Ein Kettler Rad, das bestimmt zwanzig Jahre auf dem Buckel hat und ein
Aufsatz an Taschen und Säcken, die einem einigermassen geübten Tourenfahrer,
fast den Atem stocken lässt. Auf dem Gepäckträger zwei Reserveräder, ein
Liegestuhl, eine Campingmatratze, eine riesige Luftpumpe und ein kleines
Surfbrett. Taschen auch am Vorderrad und als wäre das alles nicht genug, trägt
der kleine Mann mit den weissen Haaren und dem um die Mundwinkel vom Tabak gelb
gefärbten, aber sonst strahlen weissen Bart, auch noch einen riesigen
Treckingrucksack am Rücken. Ich halte neben ihm auf dem Gehsteig an, ich kann
nicht anders. Meine slowenische Begrüssung erwiedert Miklos mit einem
ungarischen „jo napod“. Ein Ungare also. Ein Magjar und ich kenne die Folgen
für die weitere Gesprächsführung bereits. Es wird uns nichts anderes übrig
bleiben als mit Händen und Füssen ins Gespräch zu kommen. Darin habe ich meine
Erfahrungen.
Rasch wird klar, dieser Mann schreit nach einem
Kaffe und wir machen uns gemeinsam auf den Weg, die Fahrräder neben uns
herschiebend, über die Brücke zur letzten Tankstelle vor der Autobahneinfahrt.
Bei Kaffe und Zigarette beginne ich die ersten Bruchstücke aus dem Leben von
Miklos Vamos zu verstehen. Ein Gespräch wie ein Puzzlespiel, bei dem du nach
und nach die Puzzleteile umdrehst, etwas darauf erkennst und es doch noch nicht
in Relation zu den anderen Teilen setzten kannst, geschweige denn ein ganzes
Bild zu erkennen.
Miklos Vamos ist unterwegs in den Süden. Er
flieht vor der Kälte und fährt via Italien und Frankreich nach Gibraltar. Dort
ist er anscheinend bereits einmal gewesen, denn an seinem Rucksack hängt eine
Warnjacke, wie sie Bauarbeiter tragen, mit der Aufschrift: Labour Hire (Gibraltar) Ltd.
Ein erstes Mal verabschiede ich mich von Miklos
Vamos an der Tankstelle in Lendava. Ich gebe ihm meine Mobilnummer, er solle
sich am Donnerstag melden wenn er in Maribor ist. Er meldete sich schliesslich
am Donnerstag Abend, nachdem er Maribor bereits seit zwanzig Kilometer hinter
sich gelessen hat.
Heute, mehrere Gesprächsstunden nach dieser
ersten Begegnung, liegen Fragmente von Miklos Leben vor mir, ich beschaue mir
diese einzelnen Stücke und komme nicht aus dem Staunen hinaus. Jahreszahlen,
während der Nacht auf einen Papierfetzen gekritzelt, haben unser gegenseitiges
Verstehen erleichtert. Wenn ich versuchen soll einige Eckdaten zu nennen, dann
würde das Ganze ungefähr so lauten
Miklos Vamos wurde 1962 in Ungarn geboren. Wo
genau weiss ich nicht. Er hat seine Eltern nie gekannt und ist in einem
Kinderheim und später in einem Internat aufgewachsen. In Moskau hat er sich von
1984 bis 1990 zum Helikopterpiloten ausgebildet. 1991 wurde sein Helikopter im
Jugoslawienkrieg abgeschossen. Warum und von wem habe ich keine Ahnung. Danach
ist er nach Rumänien gegangen und hat dort in mehreren Städten zwischen 1991
und 1999 gelebt. Seit seiner Rückkehr nach Ungarn im Jahre 1999 lebte Miklos
Vamos auf der Strasse, ein Obdachloser, ein homeless,
wie er selbst immer wieder betonte. Seit dann führten ihn ausgedehnte
Fahrradreisen in die ganze Welt, nach Australien (anscheinend hat die Caritas ihm
den Flug dorthin bezahlt), in die Türkei, nach Kurdistan, Iran, Irak. Seit acht
Jahren scheint Miklos einen Rhythmus gefunden zu haben. Seit acht Jahren bricht
er regelmässig im Oktober zu seiner Reise in den Südwesten Europas auf. Gegen
Mitte Dezember erreicht er Gibraltar. Dort kann er in einem Bunker (bunkercasa, so Miklo’s Ausdruck) einige
Tage ausruhen. Ein ehemaliger Militärkollege von Miklos bewohne dieses
Bunkerhaus das ganze Jahr über. Danach fährt er weiter nach Portugal, Lissabon.
Hier, mehr oder weniger am Rande Europas, ist seine Reise beendet. Im Juni oder
Juli fährt er dann auf ähnlicher Strecke zurück nach Ungarn um in Budapest
erneut für einige Wochen eine Ruhepause einzulegen.
Miklos Vamos hat die letzte Nacht in unserer
Wohnung in Maribor verbracht. Er hat nach fünf Wochen wieder einmal geduscht,
seinen Schlafsack, seine Jacke und seinen Wollpullover gewaschen und bestimmt
auch seit längerer Zeit eine ausgiebige, warme Mahlzeit zu sich genommen.
Zusätzlich konnte er sich aus meiner Tabakdose bedienen, ein Umstand den er
reichlich genutzt hat. Gemeinsam sind wir in den Supermarkt gegangen um für das
Abendessen einzukaufen. Das Angebot, mit mir zusammen ein Bier zu trinken, hat
Miklos klar abgelehnt. Er trinke seit Jahren keinen Tropfen Alkohol und meinte
dass dies auch der Grund sei, weshalb er noch nicht auf dem pokopalisce gelandet sei. Das
slowenische Wort für Friedhof war ihm wohl bekannt. Alkohol und Friedhof; für
Miklos Vamos eine Symbiose. Bestimmt hat er bereits zahlreiche Biographien mit
angesehen, die nicht zuletzt wegen dem Alkohol ein tragisches Ende genommen
haben. Kaffe und Zigartetten, das sei sein Alkohol, meinte Miklos während er
sich erneut eine Zigarette ansteckte.
Nach einer ausgiebigen Dusche kommt Miklos
Vamos aus dem Badezimmer. Als er ohne T-Shirt vor mir steht erkenne ich, wie
stämmig, wie robust, wie sportlich dieser 50-jährige Mann aussieht. Und mir
wird klar, dass dies der Körper eines Mannes ist, der während den letzten
Jahren, mehrere hundert tausend Kilometer auf dem Fahrrad zurück gelegt hat.
Seine schmutzige Hose wirft er in den Müll. Litter,
meinte Miklos lachend; Müll. Miklos Vamos fischt seine Kleider aus dem Müll und
wenn sie zu schmutzig sind, dann landen sie wieder dort wo er sie gefunden hat;
im Müll. Frankreich und Spanien seien fantastische Orte um Kleider aus dem Müll
zu holen; Francia, Espagna dobro litter,
dobro! In meiner Wohnung in Maribor öffnet er seinen grossen Rucksack und
entnimmt ihm eine Plastiktüte, zum bersten gefüllt mit Mobiltelefonen, Akkus
und Batterien. Er steckt mehrere Ladegeräte in die Steckdose und kontrolliert,
ob die Mobiltelefone auch wirklich funktionieren.
Alles was Miklos Vamos bei sich trägt, hat er
aus dem Müll. Einige Sachen, Kleider, Nahrung und Zigaretten dienen seinem
eigenen Überleben. Andere Dinge wie zum Beispiel die zahlreichen Mobiltelefone
dienen dem biznis. Auf seinem
Mobiltelefon, das er selber benutzt, zeigt er mir seine Biznispartner. Da gibt es einen Biznispartner
Elektronik, einen Biznispartnter
Silber und einen Biznispartner für
Tabak. Auch die Nummer des ungarischen Präsidenten, Victor Orban, hat
Miklos gespeichert. Dieser sei ein guter Freund von ihm, er rufe ihn
regelmässig an und während Miklo’s Ruhepause in Budapest könne er in
Räumlichkeiten übernachten, die eben dieser Victor Orban zur Verfügung stelle.
Phantasien eines zu lange auf der Strasse lebenden Menschen?
Allmählich kann mir Miklos Vamos klar machen,
dass seine jährlich widerkehrenden Fahrten gen Süden mehr sind als ein
Entfliehen aus der Kälte und aus der Stagnation. Zwar hat er für Ungarn kein
gutes Wort übrig, doch die Liebe zur Sonne und zum Meer allein ist es nicht,
die ihn jedes Jahr im Oktober wieder zum Aufbruch motivieren. Es ist das biznis.
Miklos Vamos hat festgestellt, dass er während
seinen Reisen Dinge im Müll findet, die er zu Hause in Ungarn für Geld
loswerden kann. Als Beispiele nennt er Mobiltelefone, Laptops, Uhren, Gold und
Silber; alles aus dem Müll. In Budapest hat er seine Abnehmer für diese Sachen
und die Kontaktnummern in seinem Handy gespeichert. Seine Reise nach Spanien
ist eine Biznis-Reise, seine Hotels
indes sind Stadtpärke, Waldränder und zuweilen Abflussrohre.
Miklos Vamos hat mich während seines
Aufenthaltes bei mir nicht einmal um Geld oder sonstwelche Dienste gebeten. Für
jedes Geschenk, das ich ihm machte, wollte er mir etwas aus seinem Fundus
geben. Ein Abwehren meinerseits war nur mässig erfolgreich.
Am Freitag habe ich Miklos Vamos mit dem Auto
zurück zu seinem Fahrrad nach Slovenska Bistrica gefahren. Mit gekonnten
Handbewegungen sattelte er sein Fahrrad. Gemeinsam besuchten wir nochmals den
Supermarkt. Miklos wählte eine weiche Salami, Margarine und Aufstriche. Brot
würde er genügend im Müll finden. Zähne für härtere Speisen hat er keine Mehr.
Wir verabschiedeten uns herzlich. Sein Fahrrad
die ersten Meter stossend verschwand er langsam aus meinem Blickfeld. Zurück
lässt er schmutzige Hosen in meinem Hausmüll, einen vollen Aschenbecher und
eine Lebensgeschichte, der ich sehr gerne nachgehen würde.