Donnerstag, 6. Dezember 2012

Gotof je!




Gestern Abend war es soweit. Der noch amtierende Stadtpräsident Franc Kangler  ist wegen den anhaltenden und heftigen Strassenproteste in den vergangenen Wochen zurück getreten. Sollte er nun per Ende Dezember mit seiner gesamten Entourage das Gemeindehaus räumen, so wäre eine zentrale Forderung der Demonstranten erfüllt. Doch dabei wird es nun wohl nicht bleiben. Denn Franc Kangler ist im Sumpf der Korruption, welcher hier in Slowenien grösser ist als man gemeinhin annimmt, wahrscheinlich noch ein kleiner Fisch. Auf jeden Fall war er nicht intelligent genug seine Machenschaften soweit von der Öffentlichkeit fernzuhalten, dass man ihn nicht derart leicht hätte überführen können. Die Proteste haben sich mittlerweile auf das ganze Land ausgeweitet. Die Forderung ist dieselbe in Maribor, wie in Ljubljana oder in Celje: Weg mit der korrupten Elite. "Gotof si!" - "Sie sind alle fertig!"
Die Proteste in den letzten Wochen haben stets nach dem gleichen Muster begonnen. Zuerst versammelten sich Tausende von Menschen auf dem Freiheitsplatz im Zentrum von Maribor um friedlich aber lautstark ihre Forderung heraus zu schreien: "Gotof je!" - "Er ist fertig!". Letzten Montag versammelten sich nicht weniger als 20'000 Menschen auf dem Platz, für eine Stadt wie Maribor eine unglaubliche Zahl. Die Demonstranten wurden von den Organisatoren gebeten, sich nicht dem Gemeindehaus zu nähern. Nach rund einer Stunde war die Menge aber nicht mehr aufzuhalten und bald einmal standen Tausende Menschen direkt vor dem Gemeindehaus, welches notdürftig von zahlreichen Polizisten in Vollmontur bewacht wurde. Bald flogen die ersten Steine, Flaschen und Farbsäcke. Nach mehreren zerschlagenen Scheiben begann die Polizei die Menge mit Tränengas vom Gemeindehaus weg zu treiben. Die Folge war eine mehrere Stunden andauernde Strassenschlacht mit der Polizei, in deren Folge es zu zahlreichen Festnahmen kam. 
Am 15. Dezember geht hier in Maribor offiziell das Jahr der europäischen Kulturhauptstadt zu Ende. Für den 14. Dezember sind erneute Proteste angesagt und am 21. Dezember gibt es den landesweiten "Bürgeraufstand". Slowenien stehen revolutionäre Zeiten bevor und manch ein Politiker mag sich wohl fragen, ob das Jahr der europäischen Kulturhauptstadt vielleicht auch sein letztes Amtsjahr gewesen sein wird. 
Mag Maribor im Verlauf dieses Jahres nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die es sich durch den erwähnten Titel erhofft hat, so sprechen nun zumindest bereits die österreichischen Nachbarn intensiv über ihr südliches Nachbarland. Die Zeitungen berichten noch verhalten von den Protesten und Leserbriefschreiber in der "Kleinen Zeitung" fragen sich ob das an der empfindlichen Nähe zur steirischen Landeshauptstadt Graz liegen mag. Die 70 Kilometer scheinen wenig zu sein in Anbetracht der Korruptionsskandale, die auch in der österreichischen Politik für Schlagzeilen sorgen.
Hier in Maribor sind die Demonstrationen im Moment das einzige Thema. Bereits wurden Bürgerinitiativen gegründet für das Neue Maribor. In Räumlichkeiten, die im Moment noch von Kulturhauptstadt Geldern finanziert werden. 
Es ist sehr schwierig zu sagen, wie es nun mit den Protesten weiter gehen wird. Sicher ist aber, dass Maribor sich in diesem Jahr verändert hat und dass die Veränderungen die Europäische Kulturhauptstadt 2012 auch im nächsten Jahr beeinflussen werden. Die Kulturhauptstadt; ein nachhaltiges Projekt!

Dienstag, 30. Oktober 2012

Vamos, Miklos!



Es ist ein nebliger, kalter Tag in Slovenska Bistrica. Der kälteste Tag seit dem Herbstbeginn. Die Abgaswolken der Autos bleiben noch eine Weile in der Luft hängen, nachdem sich die Wagen bereits aus dem Staub gemacht haben. Miklos Vamos lässt keine Spuren zurück. Nachdem er auf der Hauptstrasse Richtung Ljubljana aus meinem Blickfeld entschwunden ist scheint es, als hätte die kalte Luft ihn bereits verschluckt. Ihn, sein Fahrrad und sein gesamtes Hab und Gut. Dort wo er war, dort bleibt nichts von ihm zurück und dorthin wo er fährt, da erwarten ihn im besten Fall ein paar trockene Kleider, etwas zu Essen und nicht ganz zu ende gerauchte Zigaretten; aus dem Müll gefischt, vom Boden aufgelesen. Schweren Herzens sehe ich ihn davon gehen, sein voll gepacktes und massiv schweres Rad neben sich herschiebend und ich kann mir selber nicht genau erklären, was für eine Begegnung mir während den letzten vierundzwanzig Stunden zugefallen ist.

Miklos Vamos habe ich am Mittwoch in Lendava kennen gelernt, nachdem ich unser Auto beim Mechaniker Janez abgestellt hatte und mich per Rad auf den Weg zurück nach Trimlini machte. Fast wäre ich mit dem Rad in ihn hinein gefahren. Miklos stand an der Auffahrt zur Autobahn, vertieft in eine seiner Reisetaschen. Neben sich ein Gefährt von beinahe urzeitlichem Ausmass. Ein Kettler Rad, das bestimmt zwanzig Jahre auf dem Buckel hat und ein Aufsatz an Taschen und Säcken, die einem einigermassen geübten Tourenfahrer, fast den Atem stocken lässt. Auf dem Gepäckträger zwei Reserveräder, ein Liegestuhl, eine Campingmatratze, eine riesige Luftpumpe und ein kleines Surfbrett. Taschen auch am Vorderrad und als wäre das alles nicht genug, trägt der kleine Mann mit den weissen Haaren und dem um die Mundwinkel vom Tabak gelb gefärbten, aber sonst strahlen weissen Bart, auch noch einen riesigen Treckingrucksack am Rücken. Ich halte neben ihm auf dem Gehsteig an, ich kann nicht anders. Meine slowenische Begrüssung erwiedert Miklos mit einem ungarischen „jo napod“. Ein Ungare also. Ein Magjar und ich kenne die Folgen für die weitere Gesprächsführung bereits. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben als mit Händen und Füssen ins Gespräch zu kommen. Darin habe ich meine Erfahrungen.
Rasch wird klar, dieser Mann schreit nach einem Kaffe und wir machen uns gemeinsam auf den Weg, die Fahrräder neben uns herschiebend, über die Brücke zur letzten Tankstelle vor der Autobahneinfahrt. Bei Kaffe und Zigarette beginne ich die ersten Bruchstücke aus dem Leben von Miklos Vamos zu verstehen. Ein Gespräch wie ein Puzzlespiel, bei dem du nach und nach die Puzzleteile umdrehst, etwas darauf erkennst und es doch noch nicht in Relation zu den anderen Teilen setzten kannst, geschweige denn ein ganzes Bild zu erkennen.
Miklos Vamos ist unterwegs in den Süden. Er flieht vor der Kälte und fährt via Italien und Frankreich nach Gibraltar. Dort ist er anscheinend bereits einmal gewesen, denn an seinem Rucksack hängt eine Warnjacke, wie sie Bauarbeiter tragen, mit der Aufschrift: Labour Hire (Gibraltar) Ltd.
Ein erstes Mal verabschiede ich mich von Miklos Vamos an der Tankstelle in Lendava. Ich gebe ihm meine Mobilnummer, er solle sich am Donnerstag melden wenn er in Maribor ist. Er meldete sich schliesslich am Donnerstag Abend, nachdem er Maribor bereits seit zwanzig Kilometer hinter sich gelessen hat.
Heute, mehrere Gesprächsstunden nach dieser ersten Begegnung, liegen Fragmente von Miklos Leben vor mir, ich beschaue mir diese einzelnen Stücke und komme nicht aus dem Staunen hinaus. Jahreszahlen, während der Nacht auf einen Papierfetzen gekritzelt, haben unser gegenseitiges Verstehen erleichtert. Wenn ich versuchen soll einige Eckdaten zu nennen, dann würde das Ganze ungefähr so lauten

Miklos Vamos wurde 1962 in Ungarn geboren. Wo genau weiss ich nicht. Er hat seine Eltern nie gekannt und ist in einem Kinderheim und später in einem Internat aufgewachsen. In Moskau hat er sich von 1984 bis 1990 zum Helikopterpiloten ausgebildet. 1991 wurde sein Helikopter im Jugoslawienkrieg abgeschossen. Warum und von wem habe ich keine Ahnung. Danach ist er nach Rumänien gegangen und hat dort in mehreren Städten zwischen 1991 und 1999 gelebt. Seit seiner Rückkehr nach Ungarn im Jahre 1999 lebte Miklos Vamos auf der Strasse, ein Obdachloser, ein homeless, wie er selbst immer wieder betonte. Seit dann führten ihn ausgedehnte Fahrradreisen in die ganze Welt, nach Australien (anscheinend hat die Caritas ihm den Flug dorthin bezahlt), in die Türkei, nach Kurdistan, Iran, Irak. Seit acht Jahren scheint Miklos einen Rhythmus gefunden zu haben. Seit acht Jahren bricht er regelmässig im Oktober zu seiner Reise in den Südwesten Europas auf. Gegen Mitte Dezember erreicht er Gibraltar. Dort kann er in einem Bunker (bunkercasa, so Miklo’s Ausdruck) einige Tage ausruhen. Ein ehemaliger Militärkollege von Miklos bewohne dieses Bunkerhaus das ganze Jahr über. Danach fährt er weiter nach Portugal, Lissabon. Hier, mehr oder weniger am Rande Europas, ist seine Reise beendet. Im Juni oder Juli fährt er dann auf ähnlicher Strecke zurück nach Ungarn um in Budapest erneut für einige Wochen eine Ruhepause einzulegen.

Miklos Vamos hat die letzte Nacht in unserer Wohnung in Maribor verbracht. Er hat nach fünf Wochen wieder einmal geduscht, seinen Schlafsack, seine Jacke und seinen Wollpullover gewaschen und bestimmt auch seit längerer Zeit eine ausgiebige, warme Mahlzeit zu sich genommen. Zusätzlich konnte er sich aus meiner Tabakdose bedienen, ein Umstand den er reichlich genutzt hat. Gemeinsam sind wir in den Supermarkt gegangen um für das Abendessen einzukaufen. Das Angebot, mit mir zusammen ein Bier zu trinken, hat Miklos klar abgelehnt. Er trinke seit Jahren keinen Tropfen Alkohol und meinte dass dies auch der Grund sei, weshalb er noch nicht auf dem pokopalisce gelandet sei. Das slowenische Wort für Friedhof war ihm wohl bekannt. Alkohol und Friedhof; für Miklos Vamos eine Symbiose. Bestimmt hat er bereits zahlreiche Biographien mit angesehen, die nicht zuletzt wegen dem Alkohol ein tragisches Ende genommen haben. Kaffe und Zigartetten, das sei sein Alkohol, meinte Miklos während er sich erneut eine Zigarette ansteckte.

Nach einer ausgiebigen Dusche kommt Miklos Vamos aus dem Badezimmer. Als er ohne T-Shirt vor mir steht erkenne ich, wie stämmig, wie robust, wie sportlich dieser 50-jährige Mann aussieht. Und mir wird klar, dass dies der Körper eines Mannes ist, der während den letzten Jahren, mehrere hundert tausend Kilometer auf dem Fahrrad zurück gelegt hat. Seine schmutzige Hose wirft er in den Müll. Litter, meinte Miklos lachend; Müll. Miklos Vamos fischt seine Kleider aus dem Müll und wenn sie zu schmutzig sind, dann landen sie wieder dort wo er sie gefunden hat; im Müll. Frankreich und Spanien seien fantastische Orte um Kleider aus dem Müll zu holen; Francia, Espagna dobro litter, dobro! In meiner Wohnung in Maribor öffnet er seinen grossen Rucksack und entnimmt ihm eine Plastiktüte, zum bersten gefüllt mit Mobiltelefonen, Akkus und Batterien. Er steckt mehrere Ladegeräte in die Steckdose und kontrolliert, ob die Mobiltelefone auch wirklich funktionieren.
Alles was Miklos Vamos bei sich trägt, hat er aus dem Müll. Einige Sachen, Kleider, Nahrung und Zigaretten dienen seinem eigenen Überleben. Andere Dinge wie zum Beispiel die zahlreichen Mobiltelefone dienen dem biznis. Auf seinem Mobiltelefon, das er selber benutzt, zeigt er mir seine Biznispartner. Da gibt es einen Biznispartner Elektronik, einen Biznispartnter Silber und einen Biznispartner für Tabak. Auch die Nummer des ungarischen Präsidenten, Victor Orban, hat Miklos gespeichert. Dieser sei ein guter Freund von ihm, er rufe ihn regelmässig an und während Miklo’s Ruhepause in Budapest könne er in Räumlichkeiten übernachten, die eben dieser Victor Orban zur Verfügung stelle. Phantasien eines zu lange auf der Strasse lebenden Menschen?

Allmählich kann mir Miklos Vamos klar machen, dass seine jährlich widerkehrenden Fahrten gen Süden mehr sind als ein Entfliehen aus der Kälte und aus der Stagnation. Zwar hat er für Ungarn kein gutes Wort übrig, doch die Liebe zur Sonne und zum Meer allein ist es nicht, die ihn jedes Jahr im Oktober wieder zum Aufbruch motivieren. Es ist das biznis.
Miklos Vamos hat festgestellt, dass er während seinen Reisen Dinge im Müll findet, die er zu Hause in Ungarn für Geld loswerden kann. Als Beispiele nennt er Mobiltelefone, Laptops, Uhren, Gold und Silber; alles aus dem Müll. In Budapest hat er seine Abnehmer für diese Sachen und die Kontaktnummern in seinem Handy gespeichert. Seine Reise nach Spanien ist eine Biznis-Reise, seine Hotels indes sind Stadtpärke, Waldränder und zuweilen Abflussrohre.
Miklos Vamos hat mich während seines Aufenthaltes bei mir nicht einmal um Geld oder sonstwelche Dienste gebeten. Für jedes Geschenk, das ich ihm machte, wollte er mir etwas aus seinem Fundus geben. Ein Abwehren meinerseits war nur mässig erfolgreich.

Am Freitag habe ich Miklos Vamos mit dem Auto zurück zu seinem Fahrrad nach Slovenska Bistrica gefahren. Mit gekonnten Handbewegungen sattelte er sein Fahrrad. Gemeinsam besuchten wir nochmals den Supermarkt. Miklos wählte eine weiche Salami, Margarine und Aufstriche. Brot würde er genügend im Müll finden. Zähne für härtere Speisen hat er keine Mehr.

Wir verabschiedeten uns herzlich. Sein Fahrrad die ersten Meter stossend verschwand er langsam aus meinem Blickfeld. Zurück lässt er schmutzige Hosen in meinem Hausmüll, einen vollen Aschenbecher und eine Lebensgeschichte, der ich sehr gerne nachgehen würde.


Freitag, 7. September 2012

modernes wohnen in Maribor



Manche nennen sie Kaninchenställe. Mir kommen sie eher vor wie ein Bienenhaus. Kinder schwärmen auf dem Boden herum und die Alten sitzen auf dem Balkönchen und rauchen ein Zigarettchen.

Mittwoch, 5. September 2012

Velenje



Es gibt in Slowenien nach wie vor viele Orte und Städte, die ich noch nicht kennen gelernt habe. Einer jener Orte war bis gestern die Stadt Velenje.
Velenje ist keine historische Stadt im herkömmlichen Sinne, wenn wir unter „historisch“ mittelalterliche Stadtmauern und pompöse Bürgerhäuser verstehen. Velenje ist eine junge Stadt, die aber den Namenszusatz „historisch“ durchaus verdient hat.
Die Stadt Velenje wurde nach dem 2. Weltkrieg von unzähligen „freiwilligen“ Händen in kurzer Zeit aus dem Boden gestampft. Freiwillig waren diese Arbeiten in dem Sinne, dass die Frauen und Männer dafür grösstenteils nicht bezahlt wurden. Jedoch konnten sie sich mit ihrer tatkräftigen Mitarbeit eine der vielen neuen (und für die damaligen Zeiten höchst modernen) Wohnungen ergattern. Die Geschichte der Entstehung Velenjes ist auch sehr stark mit der Industriegeschichte jener Gegend verbunden. Noch heute prägen Kohleöfen und das immense Areal von Gorenje, dem wohl bekanntesten Haushaltsgerätehersteller Südosteuropas, das Gebiet. Kohle wird auch nach mehr als 50 Jahren noch gefördert, verbrannt und in Elektrizität umgewandelt. Ein Arbeiter des Kohlewerkes meinte, dass die Vorräte bestimmt noch bis ins Jahr 2050 reichen sollen.
Bei unserem Spaziergang durch die ehemalige jugoslawische Vorzeigestadt Velenje war ich fasziniert vom Leben, das hier zwischen all dem Beton herausplätschert. Auf dem riesigen, verkehrsfreien Hauptplatz der Stadt spielen Dutzende von Kinder während die Eltern beim Kaffe oder Feierabendbier sitzen. Nebst slowenisch wird hier vor allem bosnisch gesprochen. In den letzten Jahrzehnten sind sehr viele Menschen aus Bosnien Herzegowina nach Velenje gekommen. Arbeit fanden sie entweder im Kohlebergwerk oder bei der Firma Gorenje.
Doch auch wenn sich hier in Velenje ein Stück Jugoslawien erhalten hat, büsste die Stadt in den letzten Jahren doch einen grossen Teil ihres ursprünglichen Charms ein. Zu erkennen ist das vor allem an den unzähligen geschlossenen Klein- und Kleinstläden. Diese waren einstmals im Erdgeschoss der grossen Wohngebäuden angesiedelt. Die Läden bildeten sozusagen die Wurzeln dieser Bauten und versorgten deren Bewohner mit Brot, Kleider, Bücher oder Spielwaren. Hinzu kamen unzählige Kaffes, in welchen sich die Bwohner nach der Arbeit trafen. Heute sind diese Läden zum grössten Teil verschwunden. Ein Freund von uns meinte, dass es in seinem „Quartier“ noch einen kleinen Supermarkt gebe. Doch der Besitzer kämpfe täglich ums Überleben und würde er nicht 365 Tage im Jahr geöffnet haben, so könnte er wohl morgen die Türen für immer schliessen. Anstelle dieser Läden stehen heute mehrere riesige Einkaufszentren am Stadtrand. Woher eine 50 Tausend köpfige Stadt den Bedarf für ein solches Angebot hernehme, ist auch unserem Freund in Velenje ein Rätsel. Doch noch haben die Supermärkte nicht das ganze Leben Velenjes in ihren Bann gezogen. Noch scheint es, als träfen sich die Menschen dieser Stadt am Feiernachmittag (die Arbeit beendet man hier gegen 15 Uhr) lieber auf dem Hauptplatz untehalb der Statue des Mareschall Titos als im Bowlingcenter des Supermarktes. Gut so!

Sonntag, 2. September 2012

Bakar



Das Adriatische Meer ist beinahe ausgefischt; die fetten Beuten an Land gezogen und in einer gottvergessenen Strasse zwischen Rijeka und Zadar zwischengelagert. Zusammen mit dem Holzstoss eine Vorbereitung für den anstehenden Winter.

Wollen wir aber nicht schon die Kälte ins Haus holen sondern erfreuen uns stattdessen am reichlich gefallenen Regen und am guten Wein des vorherigen Jahres.

Während in der Kulturhauptstadt die Festbeleuchtung immer früher eingeschaltet werden kann fragt man sich hier wie lange es denn überhaupt noch Strom geben wird. Man jammert in Raten und bezahlt auch das Ledersofa in der gleichen Manier. Wer sich 50 Cent pro Tag nicht mehr leisten kann ist wirklich ein armer Schlucker.

Der Silberfisch aus Bakar lässt grüssen.

Montag, 18. Juni 2012

gehcrew im stehcrew Verdacht


Der letzte Kommentar hat es deutlich gezeigt, denn folgt man den äusserst spärlichen Einträgen der gehcrew könnte man meinen, die Crew sei tatsächlich stehen geblieben. Ich persönlich würde den momentanen Zustand nicht als Stillstand bezeichnen sondern eher an ein im Kreis sich drehen an verschiedenen Orten. Meine physische Präsenz pendelt zwischen Maribor, Graz und Bern hin und her. Psychisch bin ich nach wie vor unterwegs zwischen Bern und Istanbul. Die gehcrew scheint zu einem grösseren Projekt geworden zu sein als wir es gedacht hatten.
Zusammen mit Miha und dem Verein begehbar arbeite ich nach wie vor daran, in naher Zukunft Touren im Balkan auf die Beine zu stellen. Die Studienreise vor zwei Wochen nach Montenegro könnte für uns ein richtiger Schritt in die richtige Richtung gewesen sein. Wer mehr über diese Studienreise erfahren will schaut unter:
http://www.begehbar.org/
http://www.facebook.com/studyweekmontenegro
http://blogs.statravel.ch/studyweekmontenegro
Es ist für mich, Natasa und Jurij immer wieder eine Herausforderung diese Pendelbewegungen zu verkraften und die Unsicherheiten, die sie mit sich bringen, einzustecken. Auch stellt sich natürlich nach wie vor die Frage, ob wir dieses "Pendler-Leben" überhaupt noch wollen. Der Wunsch nach etwas mehr Kontinuität und Stabilität ist jedenfalls unüberhörbar. Doch wirken hier auch noch andere Kräfte. Kräfte die man als Sehnsucht oder Neugierde bezeichnen könnte und die uns immer wieder bewusst werden lassen, dass die vielen Möglichkeiten in unserem Leben auch ein tägliches Geschenk sind.
Dass es uns aber bald einmal wieder für längere Zeit in die Schweiz zieht ist absehbar. Ich vermisse meine Freunde und meine Familie sehr.
Uns allen geht es gut und wir bleiben unterwegs (und sei es auch nur in unserem vorübergehenden Garten). Die gehcrew holt Atem für neue Abenteuer.

Montag, 6. Februar 2012

zeitlose Uhr





Mein Freund dan hat mir zu meinem letzten Geburtstag ein wunderschönes Geschenk gemacht. Es war dies eine Sammlung aller Texte und Textchen, die im Rahmen von gehcrew während der letzten zwei Jahre entstanden sind. Obwohl die Texte und die dazugehörigen Bilder zwar im Internet abrufbar sind, habe ich mich vor knapp einem Jahr dermassen über das Geschenk gefreut, dass ich es immer wieder in die Hände nehmen musste. Es ist ein Ringordnerbuch, A4 Grösse, mit grünem Einband und ohne Seitenzahlen. Es müssten aber um die 200 Seiten sein, so schätze ich. Jedes Bild, jeder Text in diesem Buch war mir wohlbekannt und hat beim erneuten Lesen ein Teil jener Gefühle in mir hochgerufen, die ich empfunde haben musste, als ich diese Texte schrieb. Es sind nicht die überragende literarische Qualitäten des Geschriebenen, nicht die brisanten Ideen oder Gedankengänge weswegen mir dieses Buch so viel bedeutet, es ist nur meine persönliche Verbundenheit mit jedem einzelnen Erlebnis aus diesem Buch. Einige davon habe ich mit anderen geteilt. Sei es mit Menschen unterwegs, sei es mit Menschen, die aus irgend einem Grund, irgendeinmal einen Text gelesen oder sich ein Bild angeschaut haben. Diese Momente von knapp zwei Jahren in einem Buch gebündelt vor mir zu haben, hat mich, ich kann es nicht anders sagen, tief gerührt. Dan versprach mir eine Fortsetzung zu meinem nächsten Geburtstag und ich meinte, das ich mein Bestes dafür geben würde.
Nun, bald ein Jahr später, wäre Band zwei meines Buches, würde man es wirklich erstellen, wohl keine 20 Seiten stark. Eine Hand voll Einträge innerhalb eines Jahres, daraus lässt sich kein zweiter Band erstellen. Mehrmals habe ich während des letzten Jahres versucht mich hinzusetzen und etwas davon in Worte zu fassen, was mir auf der Zunge lag. Und zwar auf jener Zunge, die nicht zum sprechen gemacht ist. Eine Zunge, welche Gedanken erst in Sprache verwandelt, wenn man sich für sich selbst Zeit nimmt, in sich hört und so tut, als könnte man für eine kurze Weile die Welt um sich herum vergessen. Die Welt um sich herum vergessen, das gelingt einem wahrscheinlich am einfachsten, wenn man nicht zu Hause ist, wenn man unterwegs ist und sich der Umgebung und den Menschen, die sie bewohnen, nicht verpflichtet fühlt. Natürlich ist es eine falsche Annahme wenn man davon ausgeht, dass ein Mensch, ist er nicht zu Hause, sich seiner Verantwortung gegenüber der Umwelt und den Menschen entziehen kann. Aber das Gefühl auf sich selbst gestellt zu sein und weitgehend nur sich selbst Rechenschaft zu schulden, kommt bestimmt auf Reisen eher auf als im Alltag.

Und was gibts Neues bei uns?

Jurij; an erster Stelle steht bestimmt unser Sohn Jurij. In etwas mehr als zwei Wochen wird er seinen ersten Geburtstag hier in Maribor feiern. Am 18. Februar 2012 wird er den 365. Tag hier bei uns beginnen. Dankbar sind Natasa und ich für die Tatsache, dass wir alle in diesem ersten Jahr viel Zeit miteinander verbringen konnten. Kurz vor Jurijs Geburt begann ich eine Arbeit als Deutschlehrer bei der Sprachschule Berlitz. Im Verlauf des letzten Jahres hatte ich selten mehr als 10 Stunden Arbeit pro Woche. Doch gemeinsam mit dem Geld für Natasas Mutterschaftsurlaub schafften wir es finanziell einigermassen über die Runden zu kommen. Dankbar war ich aber jedes Mal, wenn mich der Gemüsebauer wieder nach Golaten rief, weil ihm die Petruschkas oder der Blaukabis buchstäblich bis zum Hals standen. Dort verdiente ich den Gastarbeiter-Lohn, jenes Geld, das seinen echten Wert erst dann entfaltet, wenn man es ins Ausland exportiert. Zum Beispiel nach Slowenien. Dass die Arbeit auf dem Gemüsebetrieb mir nicht nur Geld sondern auch ein Haufen lehrreiche Momente beschert hat, habe ich bereits mehrmals erwähnt.

Als Deutschlehrer für dir Sprachschule Berlitz komme ich viel in der Umgebung herum. Ich unterrichte Gruppen und Privatschüler in Maribor und fahre auch immer wieder zu Firmen. Gerade diese Firmenbesuche sind für mich fantastisch. Dadurch erhalte ich einen interessanten Einblick in die slowenische Arbeitswelt. Sei es bei der Toilettenpapier Fabrik Paloma, beim Hydraulik-König Bijol oder in der IT-Abteilung eines Haushaltgeräte Herstellers. Dass ich mir langsam wie eine Audio-Kassette vorkomme kann ich dank diesen Erfahrungen guten Mutes zur Seite schieben.

Seit Januar 2012 arbeite ich auch zwei Tage in der Woche in einem Kinderdorf in Graz. Hier bin ich als Sozialpädagoge angestellt und kümmere mich um alles was im meist hitzigen Verlauf eines Tages so anfällt: Hausaufgaben durchpauken, Mittag- und Abendessen herrichten, Fussball spielen, Windeln wechseln, Kinder zu den Eltern fahren, Streite schlichten und den Fernseher leiser stellen... Ich lerne, dass ein „fesches Dirndl“ kein Schimpfwort ist, sondern ein braves, steirische Mädchen meint. Ich muss einsehen, dass eine „gleitende Jause“ in einem hektischen Alltag vielleicht die geeignetere Form des Mittagessens ist und dass auch halb gefrorenes Toastbrot essbar ist. Zudem weiss ich nun, dass tiefgefrorene „Hendl“, direkt in die heisse Bratpfanne geworfen, bereits nach 15 Minuten serviert werden können. Ich lerne einen Haufen wunderbarer Menschen kennen und werde in jeder Stunde, die ich im Kinderdorf verbringe um viele Erfahrungen (und der ersten weissen Haare) reicher.

Mit ganz herzlichen Grüssen aus dem tief verschneiten Maribor!








Dienstag, 25. Oktober 2011

Wertschröpfung



Mein kurzer Einsatz als Gastarbeiter auf dem Gemüsehof von Michu Hurni ist nun auch bereits wieder zu Ende. Heute hatte ich meinen letzten Arbeitstag und wir haben uns nochmals so richtig ins Zeug gelegt. Die nachmittägliche Ernte von rund 10 Tonnen Kohl lässt sich sehen... Michael, mein Gastarbeiter Kollege und sein Chef werden nun auf jeden Fall während den nächsten Regentagen genügend Arbeit im Rüstraum haben.

Es war einmal mehr eine sehr lehrreiche Zeit für mich. Mit einer grossen Bewunderung schaue ich auf Michus unermüdliche Einsatz auf dem Gemüsebetrieb. Täglich ist der junge Bauer rund 12 Stunden auf den Beinen um die vielen anstehenden Arbeiten zu erledigen, die es eben braucht, bis das Gemüse verpackt in der Ablage von Migros oder Coop dem Kunden präsentiert wird. Erschreckend wenig schaut dabei für den Bauer selbst heraus; aus der finanziellen Perspektive betrachtet. Mit Verkaufsmarchen von manchmal mehreren hundert Prozent könnte man meinen, dass sein Teil der Arbeit nur ein kleiner sei. Dass dem nicht so ist habe ich nun mal wieder feststellen können. Eine Feld der raren Peterliwurz, auf welchem wir gut und gerne eine Woche beschäftigt waren um all die Rüben von Hand aus der Erde zu ziehen, bringt ihm nur einen Bruchteil dessen ein, was schliesslich der Verkauf der Ware im Detailhandel ausmacht. Das Geld geht also nicht zu jenen Menschen, die die Ware anpflanzen, pflegen und ernten als viel mehr zu jenen, die sie nur gerade verkaufen. Da läuft was Grundlegendes falsch. Dass dies nicht nur im "Gemüse Business" so läuft ist mir natürlich bewusst.


Übrigens: Die Kürbisse zur Produktion des Golatener Kürbiskernöl sind erntereif. Nun werden in den nächsten Tagen die Kerne entnommen und diese dann in die Presse gebracht. Auf das Resultat warten wir alle gespannt. Dass "daraus nix wird" würde ich demnach nicht behaupten!



Mittwoch, 19. Oktober 2011

Feldarbeit




Zwei arme Bauern arbeiten gemeinsam auf einem Acker als mit ohrenbetäubendem Getöse ein Kampfjet über ihren Köpfen vorbei donnert.
„Hast du gesehen, das Flugzeug ist mit Raketen bestückt“, meint der eine Bauer zum anderen. „Wie viel wohl nur eine solche Rakete kosten mag?“, fragte ihn der zweite Bauer. „Bestimmt mehrere zehn Tausend Euro“, weiss jener. Darauf erhebt der erste Bauer seine Hände trichterförmig zum Himmel und schreit: „Oh Gott, hab Erbarmen mit uns und wirf uns eine solche Bombe zu Füssen!“

Michael, der Saisonarbeiter aus der Slovakei, mit dem ich zur Zeit in Golaten arbeite, weiss viele solche Witze zu erzählen. Es ist seine Art von Humor und ich komme ganz gut zu Recht damit. Michael, der mit seinen 62 Jahren nun schon das vierte Jahr als Saisonarbeiter in der Schweiz verbringt scheint grundsätzlich dem Leben mit viel Humor entgegen zu treten. Doch dass da mehr als nur Witze Klopfen dahinter steckt habe ich schon längst gemerkt. Seine Persönlichkeit strahlt eine kindliche Verspieltheit und ein unerschrockener Optimismus aus, der hier auf den Felder von Golaten bestimmt seines Gleichen sucht.

Es kommt immer mal wieder vor, dass wir gemeinsam während mehreren Stunden Tonnen von Kabis rüsten, diesen in Kisten verpacken und feinsäuberlich auf Holzpalletten stapeln. Eine Arbeit die eigentlich eintöniger nicht sein könnte, denn die Bewegungsabläufe sind dermassen gleichmässig, dass ich mir bereits am ersten Tag eine Sehnenendzündung geholt habe, die auch nach Tagen noch nicht abgeklungen ist. Doch geflucht wird bei Michael über Arbeit nie: „Arbeit ist Arbeit“, pflegt er zu sagen und meint damit in etwa so viel wie, dass es schlechte und gute Arbeit nicht gibt. Arbeit muss erledigt werden und da fällt automatisch diese Einteilung weg.

Ich arbeite hier in der Schweiz täglich zehn Stunden pro Tag. Das ist viel, sogar für Schweizer Verhältnisse. Mein Chef bringt es gut und gerne auf zwölf Stunden pro Tag. Der Lohn fällt einem hier nicht in den Schoss, pflegt er zu sagen und meint damit wohl, dass man Geld bestimmt anderswo leichter verdienen könnte. Michael arbeitet acht Monate im Jahr als Saisonarbeiter in Golaten, den Rest des Jahres verbringt er mit seiner Frau und dem Kind in der Ukraine. Die Ukraine sei am Arsch, hat er mir heute gesagt, aber trotzdem ein herrlicher Ort zum Leben.
Solche Aussagen machen uns Schweizer stutzig und wir würden das gerne genauer erklärt haben, doch haben wir nicht die Geduld uns das bei Alkohol, Zigaretten und vielen Umschweifungen erklären zu lassen.

Samstag, 15. Oktober 2011

das Gemüse steht uns bis zum Hals

Bild: Unterwegs in die Schweiz


Seit zwei Tagen bin ich in der Schweiz. Bei meinem bald schon langjährigen Arbeitgeber in Golaten habe ich erneut eine temporäre Anstellung auf dem Gemüsebetrieb bekommen. Im Moment steht uns die Arbeit bis zum Hals, denn noch stecken weiss nicht wie viele Tonnen Kabis im Boden und auch die Petruschkas, die Peterliwurz, muss noch geerntet werden. Für mich ist es immer wieder erschreckend anzusehen, wie viel Gemüse weggeworfen, beziehungsweise den Kühen verfüttert wird (ok, die müssen auch was fressen, aber nicht unbedingt das, was ursprünglich für Menschen angebaut wurde..). Eben hat der Bauer 20 Tonnen Kartoffeln vom Prüfer zurückbekommen. Die Kartoffeln weisen Schlagschäden auf. Dadurch sind sie zwar noch lange nicht ungeniessbar, aber wie Konsumenten wollen ja nur das Beste. Die ehemalige Bäuerin des Betriebs nennt dies immer wieder eine Sünde. "Ist es nicht eine Sünde, so viele Lebensmittel wegzuwerfen?"

Ich selber kann mit dem Wort Sünde wenig anfangen. Bestimmt aber ist etwas in unserem Versorgungssystem völlig falsch gelaufen!