Mittwoch, 6. April 2011

Perspektivenwechsel

Perspektivenwechsel sind wünschenswert und werden grundsätzlich als Bereicherung angepriesen. Eine Reise in ein fernes Land, in eine fremde Kultur kann ein Perspektivenwechsel sein. Das Überwinden grosser Distanzen in sehr kurzer Zeit vermag den heutigen Menschen in Situationen hinein zu katapultieren, in welchen er auf einmal völlig neuen Gerüchen, Klängen und Bildern ausgesetzt ist. Perspektivenwechsel sind aber auch im alltäglichen Alltag möglich und ich erschrecke immer wieder darob, wie wenig ich davon Gebrauch mache. Manchmal mit unserem Hund Pintaš im Lift, während der Fahrt in den 5. Stock unseres Wohnblockes, kauere ich mich zum ihm hinunter und erlebe die Liftfahrt aus der Perspektive des Hundes und staune über das völlig neue Gravitätsgefühl, welches man erlebt, wenn der Lift im 5. Stock ruckartig in seiner Fahrt anhält. Ich kann mich erinnern, wie wir früher, als Kinder des Spieles Willen und als Jugendliche des Aufstands wegen, uns manchmal mitten in der Stadt auf den Boden gelegt haben, auf diesen schmutzigen Boden welcher sonst nur mit Schuhen begangen wird, auf welchem Zigarettenstummel und McDonalds Verpackungen liegen. Doch die Perspektive, dem schmutzigen Stadtboden nahe, war fantastisch. Die Menschen wie Riesen an einem vorbei gehen sehen, die Häuser schiessen wie Wolkenkratzer in die Höhe und zwischen den Strassenschluchten weisse Wolken, die in diesem Moment nur für dich da zu sein scheinen. Oder noch besser; kürzlich habe ich mich in einer riesigen Kathedrale auf den Boden gelegt, auf diesen kühlen Steinboden der alt und müde riecht, von den vielen Schuhen über Jahrhunderte schon abgetreten. Die Kathedrale wirkt dann natürlich ganz anders und vielleicht seit vielen Jahren wieder einmal wirklich gross und ehrführchtig. Das Gefühl, welches die Erbauer erwecken wollten, dass sich der Mensch klein und der Übermacht Gottes ausgeliefert vorkommt, kann einem in einer derartigen Perspektive wieder leicht anheim fallen. Doch versuche ich in solchen Momenten die Religion aus den Gemäuern wegzudenken und nur die Schönheit des Raumes zu fühlen, der in seiner scheinbaren Grösse doch begrenzt, vielleicht dem anscheinend unendlichen Universum gar nicht so artfremd ist. Auch folgende Vorstellung: Als Kind wünschte ich mir, wenn ich in einer der grossen Kathedralen stand, nichts anderes, als meine Arme auszubreiten und in diesem hohen Raum bis an die Decke zu fliegen um dann in einem segelnden Flug, die ganze Länge des Gotteshauses abzumessen. Ich stellte mir vor, wie diese Kathedrale aus fliegender Perspektive aussehen müsste, stellte mir die steinernen Muster des Kirchenbodens aus der Höhe betrachtet vor. Durch solche Kirchenräume zu segeln war immer ein grosser Wunsch von mir. Gestern Nacht hatte ich einen Traum. Ich stand mit Freunden auf einer grossen Wiese, neben uns ein schwarzer Hund, welcher auf einmal mit grossen Sprüngen sich vom Boden erhob und, ständig mit den Beinen in die Luft schlagend, begann sich über unseren Köpfen fortzubewegen. Der Hund flog über die Wiese. Es sah zwar anstrengend aus, vergleichbar auch mit der Schwimmweise eines Hundes, doch war nicht abzustreiten, dass dieser Hund fliegen konnte. Niemand war darüber wirklich erstaunt gewesen. Ich auch nicht. Und so kam es dann, dass ich das Gleiche versuchte wie der Hund, nämlich in die Luft zu springen und mit meinen Beinen an irgendwelchen Molekülen mich abstossend langsam an Höhe zu gewinnen. Das Unterfangen gelang mir nicht beim ersten Anlauf, doch nach und nach konnte ich, alle meine Glieder wild bewegend, für längere Zeit in der Luft bleiben. Ich gewann auch an Höhe und auf einmal sah ich meine Freunde weit unten auf der Wiese stehen. Ich bewegte mich durch die Luft, der Gravität trotzdend oder besser gesagt gegen sie ankämpfend erstreckte sich nach und nach eine Landschaft unter mir, die ich aus einer solchen Perspektive noch nie gesehen hatte. Es war wunderschön. Wenn wir doch nur fliegen könnten... Fliegen aus eigener Kraft, fliegen aus eigenem Antrieb. Das dachten Nataša und ich auch vor einigen Tagen wieder, als wir von Meranovo aus über die zahlreichen Hügel des Pohorje und Kosjak hinunter nach Maribor geschaut haben. Wie wäre uns die Welt auf einmal zugänglich... Wäre sie uns zugänglicher? Jurij schaute auch über die Hügel und in den blauen Frühlingshimmel. Er schaute und staunte, eine Regung, welche bei ihm noch eins zu sein scheint. Vielleicht sah er den fliegenden Hund, vielleicht auch fliegende Menschen und wer weiss, vielleicht ist er selbst für eine kurze Zeit aus dem kleinen Körper hinausgeschlüpft um über die wunderschöne Landschaft zu fliegen. Können wir fliegen? Fliegen aus eigener Kraft, aus eigenem Antrieb. Würde Jurij mich das hier und heute fragen ich würde ihm mit Ja antworten. Hoffentlich werde ich das auch später noch tun und hoffentlich werde ich auch viele andere Fragen mit Ja beantworten. Vielleicht muss ich Jurij dann eingestehen, dass ich es verlernt habe, dass ich die Fähigkeit zu fliegen nicht mehr besitze, was aber nicht heisst, dass man es nicht kann. Denn schliesslich bleibt es doch für alle Zeiten so: Was im Traum, was in der Vorstellung, was in der Phantasie möglich ist, das ist möglich. Unsere Realität hat damit nichts zu schaffen. Und wenn wir unserer Realität mehr Bedeutung zumessen als den Träumen dann ist das allein unser Problem. Deshalb Jurij: Wir können fliegen!

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