Dienstag, 4. Januar 2011

Kleine Haltestellen und Farbtupfer

Ich habe eine Sendung über das Thema „Heimweh und Sehnsucht“ gehört. In dieser Sendung wurde erzählt, dass Schweizer Fremdenlegionäre, welche vor Jahrhunderten weit und breit für ihre Härte und Unerbittlichkeit bekannt gewesen waren, beim Klang von Kuhglocken in der Ferne oftmals krank wurden. Es soll sogar vorgekommen sein, dass die brutalen Kämpfer ob dem Klang der Glocken gestorben seien. Das Heimweh habe sie gepackt, sagte man damals. Die Krankheit Heimweh.
Sehnsucht kann sich natürlich durchaus auch auf die Heimat beziehen. Im Gegensatz zum Heimweh scheints mir aber, dass Sehnsucht auch vom Zuhause ausgehen kann. Sehnsüchtige Gedanken können in die Fremde schweifen, sie können Grund dafür sein, dass jemand überhaupt sein zu Hause verlässt.
Seit langem faszinieren mich Berichte davon, wie Menschen zu früheren Zeiten ihre Heimat verlassen haben. Welcher Mut, welche Entschlossenheit damals. Bestimmt und wahrscheinlich sogar nicht selten, welche Misere, welche Armut zu Hause. Auf jeden Fall gab es auch in früheren Zeiten bereits Menschen, die aus lauter Sehnsucht nach der Fremde das Zuhause, die Heimat verlassen haben. Sie mögen jedoch in der Minderheit gewesen sein.
Tagtäglich sind heute wohl Millionen von Menschen unterwegs, auf der Suche nach einer neuen Heimat. Der grösste Teil von ihnen unfreiwillig, viele wohl auf der Flucht. Glücklich können wir uns schätzen, die Möglichkeit zu haben unseren Aufenthaltsort zu wählen und eine Reise aus eigenem Antrieb unternehmen zu können.

„Das Rollen der Räder, das Zischen des entweichenden Dampfes zog die Menschen in ihren Bann, transportierte sie durch die Länder, löste ganze Völkerwanderungen aus. Fontana sah sie auf den Bahnhöfen ein- und aussteigen, sie trieben von Osten nach Westen, von Süden nach Norden, und die Maschine führte sie durch die Welt, die sich vor ihren staunenden Gesichtern entfaltete, sich vor ihren Augen in ihrer ganzen Vielfalt ausbreitete. Menschen, die bisher nur ihre angestammte Heimat kannten, die die Welt nur auf die kleine Umgebung ihrer Häuser und ihres Lebens bezogen, fuhren durch die Heimat anderer Menschen, liessen sich dort nieder, fanden oft keine Wurzeln, blieben fremd, zogen heimatlos weiter, in andere Teile dieser Erde, Heimat suchend, eine neue Heimat sich schaffend in immer ferneren, fremderen Landschaften.“

Es gibt doch diesen Satz: „Dort wo ich bin, da ist auch mein Zuhause“. Ein schöner Satz ist das, aber wann kann man das schon von sich sagen. Es kommt wohl nur selten im Leben eines Menschen vor, dass man sich überall zu Hause fühlen kann. Denn das bedeutet doch auch, dass man keine Bindungen und Verpflichtungen verspürt, die einem mal hier und mal dorthin ziehen. Auch wenn „Zuhause“ absolute Vertrautheit bedeutet, kann ich mir nur schwerlich vorstellen, dass man überall zu Hause sein kann. Wenn aber „Zuhause zu sein“ bedeutet, sich mit seiner ganzen Person, mit allem was man selber ist, jedem neuen Ort, jeder neuen Situation zu stellen, dann macht dieser schöne Satz für mich Sinn.

„Der Zug rollte vorbei an all diesen Dörfern und Städtchen, die nun irgendwo lagen, die nicht mehr den jeweiligen Mittelpunkt der Erde bildeten, die nur noch an irgend einer Eisenbahnstrecke lagen, bestenfalls kleine Haltepunkte waren, Farbtufper, kleine Muster in einer langen Kette, die sich zwischen zwei Endpunkten spannte, ein Muster über die Welt webte aus Stahl und Kohle und Bewegung und den Hoffnungen der Menschen.“

Zu wissen dass fast jeder Ort auf dieser Erde der Mittelpunkt für einen Menschen bedeutet, kann Vertrauen schaffen. Das Vertrauen darin, dass jeder kleine Haltepunkt, jeder Farbtupfer auf dieser Erde für einen bestimmten Menschen Vertrautheit und somit Heimat bedeutet. Darauf lässt sich aufbauen. Damit lässt sich Reisen.

Aus "Das Muster" von Dieter Forte

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