Ich entschuldige mich im Voraus für die Länge einiger Einträge. Aber manchmal ist es mir nicht möglich, mir wichtige Eindrücke in wenigen Sätzen abzufassen. Einen Dank an all jene, die sich Zeit nehmen, auch die längeren Texte zu lesen.
Nachdem ich gestern auf der zweiten Verteilstour mit Sloboda mitfahren konnte, kenne ich nun alle 18 Standorte, an welchen das Essen, das man in der Rot-Kreuz Küche zubereitet, verteilt wird. Es sind unscheinbare Lokale, meistens mitten in Wohnvierteln, in oftmals heruntergekommenen Gebäuden, in welchen sich montags bis freitags gegen Mittag die Menschen sammeln um das warme Essen abzuholen.
Wenn wir mit unserem Lieferwagen heranfahren, kommt meistens bereits jemand aus einem dieser Lokale heraus, in der Hand den leeren, sauber gewaschenen Thermostopf vom Vortag, der nun gegen einen vollen eingetauscht wird. Oftmals sind es ältere Frauen, die wohl seit Jahren diesen Dienst leisten ohne dafür bezahlt zu werden. Manchmal helfen wir den rund 30 Kilogramm schweren Topf ins Lokal reinzustellen. Dort stehen immer auch Kisten voller Weissbrote bereit, die das ihre dazu beitragen, die hungrigen Bäuche satt zu machen.
Eindrücklich bleibt mir das Quartier Alpašino Polje in Erinnerung. Ein riesiges Wohnviertel mit 15 stöckigen Gebäuden, direkt am Miljačka Fluss gelegen. Sloboda erklärte mir, dass dieses Wohnviertel speziell für die Winterolympiade 1984 fertig gestellt wurde. Ich stelle mir vor, dass diese Häuser damals sehr modern und elegant ausgesehen haben mögen. Zwischen den Gebäuden liess man viel grün stehen, baute Basketball Felder und bemalte die Treppenstufen, welche das ettagenartige Gelände verbinden, in den verschiedensten Farben. Heute, 26 Jahre später, unterscheiden sich diese Gebäude nicht im Geringsten von den anderen Hochhäusern in der Neustadt Sarajevos. Allesamt tragen sie noch die unauslöschlichen Spuren der vierjährigen Belagerung. Die Fassaden sind mit zum Teil faustgrossen Löchern versehen und an einigen Stellen ist meterlang die Backsteinmauer erkennbar, welche andernorts noch von der grauen Fassade bedeckt wird.
Während man nach dem Krieg die Altstadt langsam wieder aufgebaut hat, stehen diese riesigen Häuser weiterhin angeschossen in der Umgebung; für einen Besucher aus einem kriegsunversehrten Land wie der Schweiz immer wieder ein bedrückendes Bild. Aber wahrscheinlich haben sich die Augen der Bewohner dieser Häuser längst an das Bild gewöhnt und bemerken die Einschusslöcher erst wieder, wenn man sie darauf hinweist.
Zurück in der Küche sehe ich Haris, Hamida und Sabine zu, wie sie die riesigen Kochplatten reinigen und sich bereits wieder an die Arbeit machen, das Essen für den nächsten Tag vorzubereiten. Ich fragte Sabine ob sie auch schon einmal mit Sloboda mitfahren konnte um zu sehen, wem das wunderbare Essen zukommt, das sie täglich zubreiten. Ich war froh, als sie diese Frage mit Ja beantwortete. Denn eigentlich hat es wenig aufregendes und beglückendes an sich stundenlang Kartoffeln zu schälen oder tagtäglich mehrmals die Herdplatten zu reinigen. Das Wissen darum, dass das Resultat dieser Arbeit einige Stunden später für 1600 Menschen unverzichtbar ist, macht die Aufgabe dieses Küchenteams so grossartig.
Es ist wunderschön mitzuerleben, wie jeder einzelne der sechs Mitarbeiter seine Rolle in diesem jahrelang eingeübten Spiel beherscht. Jeder Handgriff sitzt und somit sind auch die langen Pausen, in denen man eben ausser rauchen, sitzen und schwatzen gar nichts macht, Teil der Arbeit. Wenn Ismed, der Lagerist, halt der einzige ist welcher den Schlüssel zur Vorratskammer am Bund trägt, dann ist es eben seine Aufgabe, diese Türe aufzuschliessen um die nötigen Vorräte herauszuschaffen. Er ist es aber auch, der am Dienstag sich ums Schälen der Knobläuche kümmert, welche am Mittwoch für die Bohnensuppe benötigt werden. Nebst einigen anderen kleinen Arbeiten hat er aber ausgiebig Zeit, in seinem blauen Hausmeistermantel durchs Guckfenster der Eingangstür auf die Strasse hinaus zu schauen.
Gospodine Kravič, der 83 jährige Chef des Unternehmens, verbringt die meiste Zeit des Vormittags in seinem Büro. Pünktlich um halb acht bringt man ihm seinen Kaffee und ebenso pünktlich um neun erhält er die Suppe oder das Essen welches gerade auf dem Menuplan steht. Er geniesst eine grosse Autorität und strahlt doch sehr viel Liebe und kindliche Neugierde aus. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Rechnungen und Briefe, welche er, weitsichtig wie er ist, wohl drei mal lesen muss bis er sich über deren Inhalt im klaren ist. Manchmal kommt er langsamen Schrittes in die Küche geschlichen, schaut dem Haris über die Schulter oder kontrolliert die Schnittgrösse der Karotten. Wenn er dann wieder wieder in sein Büro geht, wird nicht selten etwas geschmunzelt und es fallen einige Sprüche. Ganz leise aber nur, im Flüsterton, als könnte der äusserst schwerhörige Mann die Scherze, die man über ihn macht, noch durch die geschlossene Tür hindurch verstehen.
Sloboda, den Fahrer, habe ich besonders schätzen gelernt. Er ist der eigenständigste des ganzen Teams, wehrt sich laut fluchend gegen Anschuldigungen seitens des Chefs, wobei aber in der nächsten Minute bereits wieder ein schelmenhaftes Lachen über sein frühzeitig gealtertes Gesicht huscht. Er raucht wie ein Kamin und ist ziemlich den Sportwetten verfallen; ein Thema, welches zwischen ihm und Gospodine Kravič immer wieder zu Auseinandersetzungen führt. Sloboda schliesst die Wetten während der Arbeitszeit ab.
Gestern habe ich Sloboda gefragt, was denn geschehe, wenn er an einem Tag aus krankeitsgründen nicht zur Arbeit erscheinen könne. Das komme nie vor, meinte er meine Frage beantwortend. Seit 10 Jahren sei er nie mehr beim Doktor gewesen, schwer krank eigentlich nur einmal in seinem Leben. An dieser Stelle zieht er den Pullover aus seinen Hosen und zeigt mir die handgrosse Narbe oberhalb der linken Hüfte. 1993 ist Sloboda auf dem Berg Igman, damals als bosnischer Soldat, von Granatsplittern getroffen worden. Ein Jahr lag er in Sarajevo im Krankenhaus, währenddem seine beiden Töchter im Keller eines Hochhauses den Kindergarten besuchten.
Vielleicht und hoffentlich ist es bei den Menschen ähnlich wie mit den Häusern; an die Narben erinnern sie sich erst wenn man sie darauf anspricht.
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