Seit bald drei Monaten bin ich nun in Sarajevo. Ich könnte auch sagen, dass ich bereits drei Monate lang in Sarajevo gelebt habe. Was es bedeutet an einem Ort zu leben und nicht nur zu sein, ist nicht einfach zu sagen.
Ich habe eine Art zu Hause hier in Sarajevo. Wenn ich nach der Arbeit auf dem Koševsko Brdo in die Logavina 76 komme, dann komme ich nach Hause. In meiner kleinen Wohnung sind meine Sachen; ich kenne sie alle.
Seit bald einem Monat arbeite ich in Sarajevo. Von montags bis freitags, von 7 Uhr morgens bis kurz nach Mittag. Jeden Morgen betrete ich zum ersten Ruf des Muezzins (das ist keiner religiösen Veranlagung zuzuschreiben) die dämmrige Strasse und mache mich auf den Weg in die Küche. In der Küche habe ich nun meine persönlichen Arbeiten gefunden. Ich weiss, wann ich die leeren Büchsen auf den Rollwagen laden kann um mit der Fracht zum Container zu gehen. Ich weiss, dass ich mindestens zwei mal die Woche Kartoffeln schälen kann und einmal in der Woche dem Ismed beim Rüsten der Knobläuche behilflich sein soll.
Ich habe Freunde hier in Sarajevo. Menschen, die ich lieb gewonnen habe und die ich gerne treffe.
Sogar eine bosnische Mobiltelefonnummer habe ich mir zugelegt.
In Sarajevo habe ich meine Lieblingsplätze. Bosnische Kaffeehäuser, Pita-Buden oder auch besondere Orte, von welchen aus die Perspektive auf die Stadt besonders schön ist.
Ich kenne Schleichwege bis in den obersten Teil des Bistrik Hügels oder solche, die mich von meiner Strasse aus zum Sedrenik bringen; zum oberen Stadttor des ältesten Teils Sarajevos.
Ich kenne die Öffnungszeiten der Bibliothek und der Schumacher an meiner Strasse grüsst mich jedesmal mit einem Handwink, wenn er mich im Spiegel an seiner Werkstatt vorüber gehen sieht.
Man könnte sagen, ich lebe in Sarajevo.
Während den letzten Tagen durfte ich mit dan und Cynthia durch Sarajevo ziehen. Mit Freude zeigte ich ihnen die Früchte meiner Entdeckungstouren. Einen ganzen Abend verbrachten wir im Spielklub an der Logavina; eine jener rauchgeschwängerten Räuberhöhlen, die zu besuchen für mich immer ein Erlebnis sind. Das Bier ist an jenen Orten besonders billig und die Männer, die stundenlang an den Tischen sitzen und Karten spielen, könnte ich eine Ewigkeit betrachten. In ihrer Eigenheit erscheinen sie mir manchmal wie Wesen von einem anderen Stern.
Dass man in Sarajevo gut und ausgiebig isst, wissen meine Schweizer Freunde nun auch. Es kann vorkommen, dass nach einer Runde Bier bald eine zweite folgt, ohne dass man diese bestellt hat. Der Kellner macht einen Wink in eine Ecke und dort sitzt dann der Spender. Man dankt und erhält als Antwort einen Augenzwinker, mehr nicht.
All das kann Sarajevo sein.
Gestern Mittag sind dan und Cynthia weitergereist.
Am Nachmittag traf ich mich mit Azra und ihrem 10 jährigen Sohn Mindele. Wir hatten uns zum Eislaufen verabredet; ein Unterfangen, das meinerseits eine grosse Überredungskunst erforderte.
Es war seltsam die beiden bekannten Gesichter auf einmal vor der Lateinerbrücke zu sehen (ein Bauwerk, welches Azra noch immer als Gavrilo Princip Brücke bezeichnet), nachdem wir uns bisher nur in der kleinen Wohnung kennengelernt haben. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Eisbahn, welche Azra im Skenderik Bezirk wähnte, in der grossen Halle aus der Zeit der Olympischen Winterspiele. Ein Sicherheitsmann belehrte uns aber eines besseren: Seit dem Krieg gäbe es hier keine Eishalle mehr, zum Eislaufen müssten wir nun zum Koševo Stadion gehen. Dies war nun aber Azra zu weit und so beschlossen wir, uns in ein Cafe zu setzen. Ich wollte die Beiden mit einem besonderen Ort überraschen, rief ein Taxi und liess uns zum AVAZ Twist Tower fahren. Mit seinen 175 Metern ist der vor drei Jahren fertig gestellte Turm das höchste Gebäude Sarajevos. Von der Aussichtsplattform im 36. Stock reicht der Blick auf die weit in die umliegenden Hügel verstreute Stadt.
Mindele staunte nicht schlecht als wir am Fuss dieses Gebäudes standen und Azra schloss die Augen, als der Lift in knapp 10 Sekunden sein Ziel zu erreichen suchte.
Auf der Terrasse standen wir dann lange Zeit am Geländer und schauten auf Sarajevo hinunter. Azra und Mindele hatten ihre Stadt noch nie aus dieser Perspektive gesehen und es brauchte einige Zeit sich daran zu gewöhnen. Gemeinsam versuchten wir uns im Gewühl der Strassen zu orientieren und hielten auch Ausschau nach ihrem Haus. Wir erkannten zwar den Hügel auf dem das Haus steht, aber für eine genauere Betrachtung reichte unser Sehvermögen nicht aus. So liessen wir alle drei für längere Zeit unsere Blicke schweifen und schauten auf Sarajevo, auf die Stadt in welcher wir leben; ich seit knapp drei Monaten, Mindele seit 10 Jahren und Azra bereits seit einem halben Jahrhundert.
Im Panorama Cafe im 35. Stock war es Azra dann nicht mehr wohl. Rund um uns herum trafen sich Geschäftsleute zum Business-Lunch und der bosnische Kaffee schmeckte schlecht. So bestiegen wir bald wieder den Lift, welcher uns in den knapp 10 Sekunden in die gewohnte Perspektive zurück versetzte.
Ich bin froh haben wir diesen kleinen Ausflug unternommen. Denn es schadet nicht, so denke ich, die Stadt in der man lebt einmal in Ruhe von oben zu betrachten.
Es tut gut seine Blicke über die lange, viel befahrene Strasse gleiten zu lassen, hinaus aus der Stadt und über den Berg Igman hinüber. Denn dahinter sind weitere Berge zu erkennen, Schnee bedeckte. Durch die Wolken dringen Sonnenstrahlen welche die Gegenden beleuchten, die man vom 36. Stock des AVAZ Twist Tower nur gerade zu erahnen vermag.
"Wir sind fast schon in den Wolken", hat Mindele gerufen.
Azra deutete mit dem Finger zu den hohen Bergen und sagte zu ihrem Sohn: "Dort, weit hinter diesen Bergen liegt irgendwo die Schweiz."
Ich habe eine Art zu Hause hier in Sarajevo. Wenn ich nach der Arbeit auf dem Koševsko Brdo in die Logavina 76 komme, dann komme ich nach Hause. In meiner kleinen Wohnung sind meine Sachen; ich kenne sie alle.
Seit bald einem Monat arbeite ich in Sarajevo. Von montags bis freitags, von 7 Uhr morgens bis kurz nach Mittag. Jeden Morgen betrete ich zum ersten Ruf des Muezzins (das ist keiner religiösen Veranlagung zuzuschreiben) die dämmrige Strasse und mache mich auf den Weg in die Küche. In der Küche habe ich nun meine persönlichen Arbeiten gefunden. Ich weiss, wann ich die leeren Büchsen auf den Rollwagen laden kann um mit der Fracht zum Container zu gehen. Ich weiss, dass ich mindestens zwei mal die Woche Kartoffeln schälen kann und einmal in der Woche dem Ismed beim Rüsten der Knobläuche behilflich sein soll.
Ich habe Freunde hier in Sarajevo. Menschen, die ich lieb gewonnen habe und die ich gerne treffe.
Sogar eine bosnische Mobiltelefonnummer habe ich mir zugelegt.
In Sarajevo habe ich meine Lieblingsplätze. Bosnische Kaffeehäuser, Pita-Buden oder auch besondere Orte, von welchen aus die Perspektive auf die Stadt besonders schön ist.
Ich kenne Schleichwege bis in den obersten Teil des Bistrik Hügels oder solche, die mich von meiner Strasse aus zum Sedrenik bringen; zum oberen Stadttor des ältesten Teils Sarajevos.
Ich kenne die Öffnungszeiten der Bibliothek und der Schumacher an meiner Strasse grüsst mich jedesmal mit einem Handwink, wenn er mich im Spiegel an seiner Werkstatt vorüber gehen sieht.
Man könnte sagen, ich lebe in Sarajevo.
Während den letzten Tagen durfte ich mit dan und Cynthia durch Sarajevo ziehen. Mit Freude zeigte ich ihnen die Früchte meiner Entdeckungstouren. Einen ganzen Abend verbrachten wir im Spielklub an der Logavina; eine jener rauchgeschwängerten Räuberhöhlen, die zu besuchen für mich immer ein Erlebnis sind. Das Bier ist an jenen Orten besonders billig und die Männer, die stundenlang an den Tischen sitzen und Karten spielen, könnte ich eine Ewigkeit betrachten. In ihrer Eigenheit erscheinen sie mir manchmal wie Wesen von einem anderen Stern.
Dass man in Sarajevo gut und ausgiebig isst, wissen meine Schweizer Freunde nun auch. Es kann vorkommen, dass nach einer Runde Bier bald eine zweite folgt, ohne dass man diese bestellt hat. Der Kellner macht einen Wink in eine Ecke und dort sitzt dann der Spender. Man dankt und erhält als Antwort einen Augenzwinker, mehr nicht.
All das kann Sarajevo sein.
Gestern Mittag sind dan und Cynthia weitergereist.
Am Nachmittag traf ich mich mit Azra und ihrem 10 jährigen Sohn Mindele. Wir hatten uns zum Eislaufen verabredet; ein Unterfangen, das meinerseits eine grosse Überredungskunst erforderte.
Es war seltsam die beiden bekannten Gesichter auf einmal vor der Lateinerbrücke zu sehen (ein Bauwerk, welches Azra noch immer als Gavrilo Princip Brücke bezeichnet), nachdem wir uns bisher nur in der kleinen Wohnung kennengelernt haben. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Eisbahn, welche Azra im Skenderik Bezirk wähnte, in der grossen Halle aus der Zeit der Olympischen Winterspiele. Ein Sicherheitsmann belehrte uns aber eines besseren: Seit dem Krieg gäbe es hier keine Eishalle mehr, zum Eislaufen müssten wir nun zum Koševo Stadion gehen. Dies war nun aber Azra zu weit und so beschlossen wir, uns in ein Cafe zu setzen. Ich wollte die Beiden mit einem besonderen Ort überraschen, rief ein Taxi und liess uns zum AVAZ Twist Tower fahren. Mit seinen 175 Metern ist der vor drei Jahren fertig gestellte Turm das höchste Gebäude Sarajevos. Von der Aussichtsplattform im 36. Stock reicht der Blick auf die weit in die umliegenden Hügel verstreute Stadt.
Mindele staunte nicht schlecht als wir am Fuss dieses Gebäudes standen und Azra schloss die Augen, als der Lift in knapp 10 Sekunden sein Ziel zu erreichen suchte.
Auf der Terrasse standen wir dann lange Zeit am Geländer und schauten auf Sarajevo hinunter. Azra und Mindele hatten ihre Stadt noch nie aus dieser Perspektive gesehen und es brauchte einige Zeit sich daran zu gewöhnen. Gemeinsam versuchten wir uns im Gewühl der Strassen zu orientieren und hielten auch Ausschau nach ihrem Haus. Wir erkannten zwar den Hügel auf dem das Haus steht, aber für eine genauere Betrachtung reichte unser Sehvermögen nicht aus. So liessen wir alle drei für längere Zeit unsere Blicke schweifen und schauten auf Sarajevo, auf die Stadt in welcher wir leben; ich seit knapp drei Monaten, Mindele seit 10 Jahren und Azra bereits seit einem halben Jahrhundert.
Im Panorama Cafe im 35. Stock war es Azra dann nicht mehr wohl. Rund um uns herum trafen sich Geschäftsleute zum Business-Lunch und der bosnische Kaffee schmeckte schlecht. So bestiegen wir bald wieder den Lift, welcher uns in den knapp 10 Sekunden in die gewohnte Perspektive zurück versetzte.
Ich bin froh haben wir diesen kleinen Ausflug unternommen. Denn es schadet nicht, so denke ich, die Stadt in der man lebt einmal in Ruhe von oben zu betrachten.
Es tut gut seine Blicke über die lange, viel befahrene Strasse gleiten zu lassen, hinaus aus der Stadt und über den Berg Igman hinüber. Denn dahinter sind weitere Berge zu erkennen, Schnee bedeckte. Durch die Wolken dringen Sonnenstrahlen welche die Gegenden beleuchten, die man vom 36. Stock des AVAZ Twist Tower nur gerade zu erahnen vermag.
"Wir sind fast schon in den Wolken", hat Mindele gerufen.
Azra deutete mit dem Finger zu den hohen Bergen und sagte zu ihrem Sohn: "Dort, weit hinter diesen Bergen liegt irgendwo die Schweiz."
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