Dienstag, 8. Dezember 2009

Auf der Lateinerbrücke am Miljačka-Fluss


Ich lese gerne alte Reiseberichte und mit grossem Vergügen schaue ich mir die nachkollorierten Fotografien aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts an. Hier in Sarajevo findet man zahlreiche dieser alten Fotografien. Sie zeigen Männer in ihren traditionellen, farbigen Kleidern, mit den weiten Hosen, den turbanähnlichen Hüten und den undefnierbaren Stiefeln, die aussehen als hätten sie sich Tücher um die Füsse gebunden. Sie stehen auf dem Marktplatz, der Baščaršija, vor dem Sebilj Brunnen oder sitzen auf den Säcken, in welchen sie wahrscheinlich irgendwelche Waren zu einem Verkäufer bringen werden.

Es sind Türken, so heissts in der Legende des Bildes; in Wahrheit sind es Bosnier, Macedonier oder Albaner. Muslime wurden allgemein Türken genannt (ein Begriff der übrigens im Bosnienkrieg 1992 wieder aufkam). Auch Frauen sind auf den alten Fotografien abgebildet, manche komplett verhüllt; etwas was heute in Sarajevo kaum mehr zu sehen ist.
Besucht man die Orte, an welchen diese alten Fotografien aufgenommen wurden heute nochmals, so fällt einem auf, dass sich rein strukturell wenig geändert hat. Die Baščaršija, der Handwerksmarkt, steht nach wie vor. Anstelle der "Türken", die auf ihren Warensäcken sitzen, verkaufen heute junge Männer in imitierten Gucci-Kleidern gefälschte Dolce-Gabbana Parfums. Nach wie vor werden Abend für Abend die schweren Metall- oder Holzverschläge vor den Bretterbuden geschlossen, damit die Bašarščija zu nächtlicher Stunde eine kurze Weile durchatmen kann.

Etwas schwieriger wird das sich Einfühlen in die nachkollorierten Fotografien in den Wohngegenden ausserhalb der historischen Altstadt. Dort hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Neue Wohnhäuser entstanden und die Stadt begann sich in alle Richtungen in die Hügel hinein auszubreiten. Wo zu Beginn des letzten Jahrhunderts vereinzelte Moscheen oder Villen standen, findet man heute lückenlose Strassenzüge worin die alten Häuser und Moscheen wie die ersten Puzzlestücke einer grossen Stadt wirken. Nur selten findet man noch kleine, authentische Gässchen; kopfsteingepflastert und steil gegen das Zentrum hin abfallend. Es ist ungleich schwieriger, sich hier die nachkollorierten Fotografien ins Gedächtnis zu rufen.

Vielleicht gelingt einem die Zeitreise am ehesten, wenn man vor einer, aus österreich-ungarischer Zeit stammenden Villa steht, an deren Fassade (falls sie überhaupt noch vorhanden ist) die Farbe in grossen Stücken abblättert.
Das wohl berühmteste Haus aus dieser Zeit, die Gradska Vijećnica (City Hall), welches genau Anfang des letzten Jahrhunderts, 20 Jahre vor dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns, fertig gestellt wurde, steht, in Baugerüste gehüllt, in nächster Nähe zum Miljačka-Fluss. Damals noch Rathaus, war es das letzte Gebäude welches der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau von innen sahen. Kurz nach Verlassen dieses Gebäudes, wurden die Beiden, knapp 500 Meter flussabwäts, von Gavrilo Princip erschossen. Rund einen Monat später erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg; dies war der Auftakt zum ersten Weltkrieg. Dem Attentäter zu ehren hiess die Brücke, von welcher aus Princip geschossen hatte, während der Zeit Jugoslavies Most Gavrilo Princip. (Alte Menschen gebrauchen manchmal noch heue diesen Namen, wenn sie von der Lateinerbrücke sprechen)
Bis zum Krieg 1992 diente die Gradska Vijećnica als Nationalbibliothek, in welcher Bücher und alte Manuskripte von unbezahlbarem Wert aufbewahrt wurden. Im August 1992 setzten serbische Granaten das Gebäude in Flammen. Ziel der serbischen Angriffe waren nicht nur Militär- und Zivilpersonen, sondern auch kulturelle Einrichtungen wie die Nationalbibliothek. Neunzig Prozent der Bücher und Manuskripte verbrannten. Das Gebäude wird heute mit Spenden aus EU-Ländern und mit Donationen von Nationalbibliotheken renoviert. Unter den Donatoren ist auch die Nationalbibliothek von Serbien.

Manchmal stehe ich auf der Lateinerbrücke und schaue in Richtung der ehemaligen Nationalbibliothek. Auf der Hauptstrasse, der Obala Kulina Bana, herrscht wie immer ein reger Verkehr. Unermüdlich fahren Autos am Miljačka-Fluss entlang und quitschend bremsen alte Trams an der Haltestelle direkt vor dem Gebäude. Ich versuche mir die Autos wegzudenken (die Trams lasse ich weiter fahren, denn schliesslich sei Sarajevo 1898 die erste europäische Stadt mit einem Tramnetz gewesen) und platziere stattdessen Kutschen und hütetragende, gut gekleidete Fussgänger auf der Hauptrasse und dem Trottoir. Dermassen, mit zusammengekniffenen Augen auf der Brücke stehend, gelingt es mir manchmal, mich in die Zeit der nachkollorierten Fotografien zurück zu versetzen.

Beim Schreiben dieses Textes kommt mir der Gedanke, dass vielleicht in hundert Jahren, irgend jemand eine meiner Fotografien auf einem Trödelmarkt (oder auf E-Bay) ersteigert, sie in den Computer einscannt und mit Fotoshop nachkollorieren könnte. Vielleicht empfindet dieser Jemand ähnliche Gefühle beim Betrachten der nachkollorierten Bilder und vielleicht versucht er danach, auf irgend einer Brücke stehend, sich in die Zeit zurück zu versetzen, in welcher auf der damaligen Hauptstrasse, zu jener Zeit noch Obala Kulina Bana genannt, Autos am Milijačka-Fluss entlang fuhren und alte Trams quitschend an der Haltestelle hielten.
Vielleicht wird er durch irgend eine elektronische Quelle sogar noch in Erfahrung bringen können, weshalb das grosse, seltsame Gebäude am Strassenrand in Baugerüste gekleidet steht.

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