Mittwoch, 7. April 2010

Crkvičko Polje

Bild, Milan spielt auf seiner Gusla

Meine erste Nacht in Montenegro verbrachte ich in dem kleinen Bergdorf Črkivicko Polje. Von der bosnisch-montenegrinischen Grenze liegt es ungefähr drei Stunden Fussmarsch entfernt. Eine schmale Strasse zieht sich vom Fluss Tara her immer höher in den Berg hinauf bis sie schliesslich auf über 1000 Meter über Meer eine Hochebene erreicht hat. Schaut man nach Osten, so hat man den Eindruck, die Hochebene ende direkt an den Bergen; der mehr als 1000 Meter tiefen Tara Schlucht, welche die Hochebene jäh beendet, wird man nicht gewahr.
Ich musste die Nacht in Črkvicko Polje verbringen, meine Füsse hatten mich unmöglich noch weiter getragen, und so fragte ich den ersten Mann, welchen ich in seinem Garten arbeitend erblickte, ob ich bei ihm mein Zelt auftstellen koenne. Auch um Wasser habe ich ihn gebeten. Noch kenne ich Montenegro nicht gut genug, aber es scheint mit, als ob man hier unmöglich nur um einen Zeltplatz und Wasser bitten koenne. Bei Milivoje, seiner Frau Jelena und dem allerliebsten Grossvater Milan sass ich bald darauf zu Tische; doch zuvor zeigten sie mir das Zimmer wo ich diese Nacht schlafen wuerde.
Milan; er ist nun 92 Jahre alt, er trägt noch immer einen kleinen Schnautz, seine Augen funkeln wenn er lacht, sein Händedruck ist stark und freundlich; ein Mann den man einfach ins Herz schliessen muss. Zusammen mit seinen 15 Geschwistern ist er 1918 in eben demselben Črkvicko Polje zur Welt gekommen, ein Dorf, welches er ausser während des Zweiten Weltkrieges als Partisan nicht verlassen sollte. Er lebt noch immer im gleichen Haus, hier haben er und seine Frau, welche bereits vor 25 Jahren gestorben ist, acht Kinder gross gezogen. Milivoje, welcher heute mit seiner Frau in Plušenje lebt, hat in Črkvicko Polje waehrend 5 Jahren als Lehrer gearbeitet. Damals seien in diesem Dorf 110 Kinder zur Schule gegangen. Er unterrichtete die 1. – 4. Klasse gemeinsam, eine sehr schwierige und harte Aufgabe und vielleicht auch der Grund, weshalb er sich spaeter zum Polizisten ausbilden liess (übrigens ist er seit seinem 37. Lebensjahr in Pension, denn nach 30 Dienstjahren hatte er seinen Soll erreicht, was zurück gerechnet bedeutet, dass er seit seinem 17. Lebensjahr in die Arbeitswelt integriert war). Der Grossvater Milan zeigte mir später die Schule, oder besser gesagt, das was von ihr übrig geblieben ist. Ein grosses Haus mit einem riesigen Saal als Anbau welcher wohl in den Glanzzeiten des Dorfes gar manche Aufführung und Versammlung beherbergt hatte. Die Fenster des Gebäudes sind heute merheitliche zerstört, was keinem Vandalenakt zuzuschreiben ist, als vielmehr dem Laufe der Zeit und den strengen Witterungsbedingungen in dieser Gegend; Kräfte die auch im ringen mit den stärksten Materialien irgend wann einmal die Oberhand gewinnen. Wehmütig erwähnte Milan, dass die meisten der 110 Häuser heute leer ständen, wenige seien noch während den Sommermonaten bewohnt und die ständigen Bewohner des Dorfes seien heute an einer Hand abzuzählen; zu ihnen gehören Milan und seine Schwester, welche das Haus ihm gegenüber bewohnt.
In der gebirgigen Gegend rund um den Zusammenfluss der Tara und der Piva herum, jenes Zusammentreffen zweier Flüsse welches den Stolzen Sohn Drina gebirt, fanden während des Zweiten Weltkrieges bedeutende Kämpfe zwischen den Truppen Hitlers und Mussolinis sowie ihren verbündetetn Ustaša Kämpfern und den jugoslawischen Partisanen statt. Den letzteren war der junge Milan während den Kriegsjahren verpflichtet. Er kämpfte nicht auf den berühmten Schlachtfeldern der Sutjeska, sondern kümmerte sich um die Verteidigung seines Dorfes. Dies nicht nur den Bewohnern der 110 Häusern wegen, sondern vor allem auch im Sinne der Verteidigung des Hauptspitals der Partisanen in jener Gegend, welches so schiksalshaft nur einige Hundert Meter von seinem Haus entfernt auf einer Hügelkuppe stand. Noch heute steht es dort, nicht mehr als Spital gebraucht, sondern im Begriff zu einer Unterkunft für Wanderer umgebaut zu werden. Spricht Milan vom Krieg, so erhalten seine Augen jene Art von Schleier, welche wohl nur alte Augen kennen, die nicht mehr wirklich zu weinen wissen. Der Krieg sei schrecklich; es gäbe keinen guten Krieg und doch musste jener in den 50er Jahren geführt werden. Für den friedliebenden Milan war er zukunftsweisend, denn seine Bereitschaft als Partisan zu leben und zu sterben hat wohl das Fundament seiner Liebe zu jenem Staat gebildet, dessen Verschwinden er noch heute nachtrauert; Jugoslawien.
In der grosszügigen Küche seines Hauses hängt ein handgestricktes Portrait von Tito; eine Anfertigung seiner Schwester und etwas was ich bereits in Bosnien in mehreren Haushalten gesehen habe. Josip Broz Tito verkörperte für Milan Jugoslawien und Jugoslawien war ihm die beste aller Heimaten geworden. Eine Heimat fuer 22 Millionen Menschen der verschiedensten Religionen und Ethnien, ein prosperierendes und ein freies Land; jedenfalls fuer Milan im Bergdorf Crkvičko Polje. Aber auch sein Sohn Milivoje weiss nur Gutes über Jugoslawien zu berichten. Als ich ihn fragte, weshalb es denn 1991 auseindergebrochen sei meinte er, dass der Zusammenbruch des Vielvoelkerstaates bereits zehn Jahre früher eingesetzt habe; nach dem Tode Titos. Und warum hat Jugoslawien mit Tito bestehen können, fragte ich Milivoje. Dies sei Titos strenger aber gerechter Hand zu verdanken, meinte er darauf.

An der Wand in Milans Küche hängt ein Instrument, es sieht aus wie eine Geige, nur hat es gerade einmal eine Saite und einen viel kürzeren Bogen. Dies sei eine Gusla, meinte Milan. Ein traditionelles serbisches Instrument. Ob er ein bisschen darauf spielen solle... und schon nahm er das verstaubte Instrument, welches bestimmt seit Jahren niemand mehr in den Händen gehalten hatte vom Nagel, setzte sich aufs Sofa und begann eine Melodie zu spielen, von welcher ich unmöglich sagen könnte ob er sie gerade im Moment erfand oder ob sie bereits vorher exisitiert hatte. Nach einigen Takten hielt er kurz inne und meinte: Hier würde nun der Gesang einsetzen... Und tatsächlich, irgendwie hörte ich Stimmen als er erneut mit zitternder Hand den Rosshaarbogen über die Saite strich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen