Donnerstag, 25. März 2010

Bewegungsfreiheit

Kaum hat die erste Frühlingssonne den Wettkampf mit den Wolken gewonnen, scheint die Stadt aus allen Nähten zu platzen. Auf einmal sind alle Gassen voll von Menschen, die spazierend sich Sonnenbrillen aufsetzen und den Pulli über die Schultern geworfen haben. In der ganzen Stadt wimmelt es nun von fliegenden Verkäufern; einige klappern mit den ersten erblühten Haselsträuchern die Kaffestuben ab, deren Kellner nun alle Hände voll zu tun haben, da fast überall Tische und Stühle auf die Gassen rausgestellt wurden. Ich beginne zu erahnen, wie diese Stadt sich im Sommer anfühlen kann, welcher Lebenspuls hier herrschen muss.

Fuad profitiert im Moment kaum von der Frühlingssonne, arbeitet er doch nach wie vor in einer Kaffebar, welche, halb in den Keller versenkt, kaum Tageslicht kennt.

Im Moment sind zwei Frauen aus Bern, welche fürs Radio eine Sendung über Bosnien vorbereiten, zu Besuch in Sarajevo. Ich konnte ihnen Fuad als Übersetzer vermitteln und so sind wir gestern abend zu viert zur Bijela Tablja hochgestiegen um dort bei guter bosnischer Speise über die anstehende Radiosendung zu sprechen. Im Gespräch über Bosnien, über dessen Geschichte und Kultur, ist mir einmal mehr aufgefallen, wie wenig ich von diesem Land wusste, bevor es mich hier hin verschlagen hat. Dies allein auf die spärlichen Informationen abzuschieben, welche man anscheinend in den schweizerischen Tagesmedien über dieses Land erfährt, wäre verfehlt. Kann man sich doch immer auch auf anderen Wegen informieren, wenn man das wirklich will. Nein, ich denke es liegt schlicht und einfach daran, dass mir der Bezug zu Bosnien gefehlt hatte. So wie mir heute zum Beispiel noch immer der Bezug zu Belgien fehlt, ich demnach wenig bis nichts von Belgien weiss, auch wenn das Land so nahe liegt.

In der Radiosendung wird es ums Thema "Bewegungsfreiheit" gehen. Im Zuge der Südosterweiterung der EU und der damit einhergehenden "Personenfreizügigkeit" ( eigentlich ein äusserst schreckliches Wort!) ist die Wahl des Themas bestimmt gut. Denn die "Bewegungsfreiheit" im Südosten Europas scheint uns direkt zu betreffen, so befürchten zumindest viele Menschen. Ich habe die zwei Frauen aus der Schweiz gefragt, was sie denn von der bevorstehenden Aufhebung der Visumspflicht für Bosnier und Bosnierinnen in den Medien gehört hätten. Nichts hätte man gehört, jedenfalls nichts konkretes. Hier in Bosnien hört man zwar diesbezüglich auch nichts konkretes, dafür hört man aber sehr viel. Azra zum Beispiel erzählte mir bereits im Dezember begeistert davon, dass spätestens Ende März die Visumspflicht aufgehoben würde. Andere nennen als Stichtag den Dezember dieses Jahres, wieder andere sprechen davon, dass sich für die nächsten paar Jahre überhaupt nichts ändern würde.

Welches sind denn genau die Bedingungen für die Aufhebung der Visumspflicht? Geht es um "good government"? Wenn ja, dann wird sich die Sache wahrscheinlich wirklich noch auf Jahre hinaus zögern, denn die politische Ausgangslage in diesem Land ist nicht gerade eine Basis für "good government".

Würde sich für Azra, Mindele und Šefika etwas in ihrem Leben verändern, wenn sie ohne Visum in die EU einreisen könnten? Höchstwahrscheinlich nicht, genau so wenig wie es für die Mehrheit der anderen Bosnier und Bosnierinnen etwas konkretes verändern würde. Aber es wäre wohl für viele Menschen psychologisch wichtig, dass sie zumindest in dieser Freiheit gleich behandelt würden wie die Bürger aller anderen europäischen Staaten (ausser den Albanerinnen und Albanern). Das Wissen darum, dass man nicht eingesperrt ist wäre für viele Menschen bestimmt eine Erleichterung.

Falls Fuad, Nataša und ich eines Tages eine bosnische Ašćinica in Bern eröffnen wollen, dann brauchen wir eine der besten bosnischen Köchinnen, die uns für einige Zeit auf die Finger schaut, uns berädt und es der bosnischen Küche vielleicht ermöglichen könnte, den Kulturschock zu überstehen, welcher ihr bei der Ankunft in der Schweiz bestimmt anhaften würde. Mit Azra habe ich genau diese Köchin gefunden und im Gegenzug zu einem Sommeraufenthalt in der Schweiz wäre sie zu dieser Hilfeleistung gerne bereit; Bern würde es ihr verdanken!

Ich werde Bosnien wohl bald verlassen, einen grossen Teil der Erinnerungen an diese Reise werde ich diesem Land und seinen Menschen zu verdanken haben. Es sind Menschen, welche das Wort "Bewegungsfreiheit" für sich zu deuten wissen und beim Aufkommen der ersten Frühlingssonne gemeinsam durch ihre Stadt spazieren, als würden sie dafür bezahlt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen