Dienstag, 30. März 2010

über das Helfen

Bild: "Arbeitest oder lebst du?"

Wenn man aus einem reichen Land in ein ärmeres Land kommt, dann wird man wohl unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob man hier irgend wem irgend etwas helfen kann. Es liegt auf der Hand, dass man immer helfen kann (um diesen Dienst zu tun muss man nicht einmal das reichere Land verlassen). Eine Eigenheit eines Landes wie Bosnien-Hercegowina und einer Stadt wie Sarajevo mag darin liegen, dass hier oftmals eine Hilfsbedürfdigkeit in den Grundbedürfnissen vorliegt; kein Holz zum Heizen, zu wenig Nahrund oder keinen Strom. Als ich im Februar in die ungeheizte Wohnung von Azra und Šefika kam und sie mir sagte, dass ihnen das Holz ausgegangen und dass bis auf weiteres kein Geld in Sicht sei um neues zu kaufen, so konnte ich gar nicht anders, als ihnen die 20 Mark zu geben. Damit konnten sie sich zwei Säcke Holz besorgen.
Seit neun Monaten lebe ich von meinen Ersparnissen aus der Schweiz; ich lebe hier und jetzt ohne hier und jetzt dafür arbeiten zu müssen. Eine Situation, welche Azra schon mehrmals Kopfzerberchen verursacht hat und die sie einfach nicht verstehen kann. Immer wieder fragt sie mich: "Aber wovon lebts du denn eigentlich?" Dass ich in der IKRK Küche freiwillig (unentgeltlich) gearbeitet habe findet sie eine Schande. Denn sie lebt und arbeitet im Glauben daran, dass jede Arbeit gemacht wird um sich das Leben und das seiner Familie besser und sicherer zu gestalten. Azra zweifelt keineswegs an der Notwendigkeit der Armenküche, aber meine Arbeit dort sollte ihrer Meinung nach bezahlt werden wie jede andere auch. Es nützt nichts, an dieser Stelle mit dem Schlagwort "Erfahrung" zu kommen (obwohl es eine Tatsache ist, dass die Arbeit in Sarajevo für mich eine prägende Erfahrung war). Den meisten Menschen in Sarajevo geht es nicht darum, noch mehr Erfahrungen in ihrem Leben zu sammeln; sie wollen ein normales Leben leben, ein Leben wie es die meisten von ihnen vor dem Ausbruch des Krieges 1992 gekannt haben.

Man will nicht immer davon sprechen, kommt aber doch nicht darum herum, ihn immer und immer wieder zu erwähnen: den Krieg.
In Bosnien-Hercegowina gibt es heutzutage die gängige Zeiteinteilung "vor und nach dem Krieg". Vor dem Krieg war Bosnien-Hercegowina, soweit ich es beurteilen kann, ein Land, welches optimistisch in die Zukunft geschaut hat. Gerade Sarajevo lebte von der grossen, multi ethnischen Kultur und verstand sich mit Stolz als ein Beispiel des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Religionen. Noch heute fällt immer wieder der Ausdruck "little Jerusalem". Während der Zeit Jugoslawiens gab es in Bosnien-Hercegowina genügend Arbeit und wo es diese nicht gab, da ermöglichte der jugoslawische Pass den Bürgern und Bürgerinnen dieses Landes ins Ausland zu gehen um dort ihr Glück zu versuchen; eine Möglichkeit, die für die Menschen hier heutzutage unvorstellbar ist. Der jugoslawische Pass galt lange Zeit als einer der beliebtesten Pässe weltweit (vielleicht so wie heute der schweizer Pass?), denn Josip Broz Tito hat es geschafft, Allianzen rund um den Erdball zu schmieden, welche es den Jugoslawinnen und Jugoslawen erlaubten, beispielsweise ohne Visum in die UDSSR, nach Westeuropa, in die USA oder auch nach Indien zu reisen. Die Bürger von Bosnien-Hercegowina fühlten sich damals, vor dem Krieg, alles andere als Gefangene im eigenen Land.

Šefika, Azras Mutter, arbeitete in den 70er Jahren während vier Jahren in einer Kosmetikfabrik in der Nähe von Düsseldorf. Ihre drei Kinder waren damals noch klein, ihr Mann, welcher vor einem Jahr gestorben ist, sorgte für sie. Während diesen vier Jahren schnappte die heute 72 jährige Frau einige Brocken deutsch auf; so zum Beispiel das Wort "Arbeit", welches sie stets mit der folgenden Geste unterstreicht: Sie formt beide Hände zu Fäusten, wobei die eine Faust einen Nagel und die andere einen Hammer darstellt. Nun schlägt sie mit der Hammerfaust auf die Nagelfaust und spricht es aus, was sie während vier Jahren in Deutschland gemacht hat: Arbeit, Arbeit, Arbeit... Azra hat mir einmal die technische Schule gegenüber dem Nationalmuseum gezeigt, wo sie als junge Frau eine Ausbildung zur Schneiderin gemacht hat. Gearbeitet hat sie nie als Schneiderin, dafür erledigte sie aber sonst so ziemlich alle ihr aufgetragenen Arbeiten. Ihre "Ausland-Erfahrungen" beruhen in einem sechs monatigen Aufenthalt an der kroatischen Küste bei Makarska wo sie alleine die Küche eines Hotels geschmissen hat. Beide mussten wir erneut lachen, als sie mir kürzlich zum dritten Mal erzählte, wie sie damals in Makarska angekommen sei und wie man von ihr verlangte habe, sie solle nun dalmatinische Speisen zubereiten. Azra hatte noch nie zuvor einen Fisch gebraten und dabei sollte es auch bleiben. Denn sie liess den Chef wissen, dass sie nur das bosnische Küchenhandwerk verstehe, dass wenn er sie aber darin unterstütze, ihm die Kundschaft gewiss sein werde. Und so kam es dazu, dass Azra, umgeben vom Geruch gebratener Fische, standhaft ihre bosnischen Pitas zubereitete, ab und zu einen bosnischen Eintopf servierte oder auch mal den Grill anwarf um darauf einige Čevapis zu braten. Die Ašćinica Azra war ein grosser Erfolg und als Azra am Ende der Saison ihre Koffer packte und per Zug über Metkovič, Mostar nach Sarajevo zurück fahren wollte, liess sie der Chef wissen, dass er sie eigenhändig mit seinem Auto nach Sarajevo zurück fahren werde. Da hat die alte (damals noch junge) Šefika schön gestaunt, als sie ihre Tochter Azra in einem glänzenden BMW die steilen Gassen des Bistrik hochfahren sah. So was hätte es dort noch nie gegegben, versicherte mir Azra. Der Chef bedauerte es, dass Azra nicht mehr bei ihm arbeiten würde, aber für sie war es zu schwierig, von ihrer Familie und ihrer Stadt getrennt zu sein.

So hat man es damals, vor dem Krieg, irgendwie geschafft, sein Leben zu meistern. Mit etwas Einfallsreichtum und Mut war es möglich gewesen anständig Geld zu verdienen um anständig leben zu können.

Als ich vor zwei Tagen zusammen mit Fuad und den zwei Radiomacherinnen Lucia und Marina im Bistrik zu Besuch war, wurden wir vor allem mit dem Leben nach dem Krieg konfrontiert.
Das grosse Haus, welches Azras Grossvater einst gebaut hatte, wurde bereits vor Jahren verkauft. Šefika, Azra und ihr Sohn Mindele wohnen nun in einem kleinen Häuschen, direkt neben ihrem alten, ehemaligen, grossen und schönen Haus. Das ehemalige Haus hat eine weissgetünchte Fassade, ihr Haus besteht, wie fast alle Häuser in diesem Teil des Bistriks, aus nackten Ziegelsteinen. Šefika bewohnt den oberen Stock (ein Stock gleich ein Zimmer) des Hauses. Wäre ihr Zimmer die Dependance eines Luxushotels, man könnte hier ein Vermögen für eine Nacht verlangen; vom Fenster aus gleitet der Blick über die ganze Altstadt von Sarajevo. Scheint die Sonne, spiegelt sich das Licht dort unten im Talkessel in Tausenden von Fensterscheiben und man hat den Eindruck als schaue man hinaus auf einen See. Azra und ihr Sohn Mindele wohnen seit drei Jahren im unteren Stock des Hauses. Eine Unzahl von Teppichen, die sie über den blossen Erdboden gelegt haben, welcher den Fussboden des Zimmers bildet, schützt die Beiden einigermassen vor Kälte und Feuchtigkeit. Das Wasser welches bei Regen regelrecht durch ihre Wohnung fliesst und welches konstant an den Wänden nagt, ist jedoch nicht aufzuhalten.

Wir sassen alle sechs in Azras Zimmer auf einem Sofa, nur Mindele spielte draussen mit seinem neuen Fussball (danke Aljaš!). Fuad erklärte den Beiden, dass die zwei Frauen nach Sarajevo gekommen seien, damit sie hier mit Leuten sprechen könnten um in Erfahrung zu bringen, wie Menschen hier leben. "Und dann?", wollte Azra wissen. Ja, und dann... Dann wahrscheinlich nichts. Dann werde man aus dem Tonmaterial eine Radiosendung machen und diese werde eines Tages (inshalla noch diesen Herbst) im nationalen Radio in der Schweiz ausgestrahlt werden. Viele Menschen aus der Schweiz würden dadurch hoffentlich mehr über das Leben der Menschen in Bosnien-Hercegowina und in Sarajevo erfahren. "Und wird uns jemand helfen? Wie erfahren sie von uns, wenn sie uns helfen wollen?", wollte Azra weiter wissen. Ihre Mutter Šefika konnte ihr erklären, dass es nicht um eine konkrete Hilfeleistung gehe, sondern viel mehr darum, den Menschen im Ausland zu zeigen, wie schwierig das Leben hier in Sarajevo sein kann. Nichts Konkretes also...

Und doch konnten wir an diesem Tag noch konkret etwas helfen. Azra kam während des Gespräches auf ihren neuen Holzofen zu sprechen, welcher seit einem Tag am alten Ofenrohr angeschlossen in ihrem Zimmer stand. Der alte Ofen sei unerträglich geworden, denn ständig sei der Rauch aus allen Ritzen ins Zimmer gestiegen. Nun hätte ihr eine Bekannte diesen neuen Holzofen gegeben, für nur 40 Mark. In der Baščaršija, wo diese metallenen Öfen in Handarbeit hergestellt werden, bezahle man dafür 200 Mark (wie ich gesehen habe sind es 250 Mark). Nun habe sie aber auch die nötigen 40 Mark nicht um diesen Ofen zu kaufen und müsse ihn wohl deshalb bald schon bald der Bekannten zurück geben.
Es waren genau 10 Mark (5 Euro), die jeder und jede von uns hinlegte, damit Azra den Holzofen behalten konnte, welcher bereits am Ofenrohr angeschlossen wärmend in ihrem Zimmer stand. Fuad bestand darauf, Azra auch 10 Mark zu geben, obwohl er als Kellner gerade mal 300 Mark monatlich verdient. Später sagte er mir, dass er ihr gerne noch mehr gegeben hätte, dass er es tun werde, wenn er einmal mehr Geld habe. Das sei normal hier (oder zumindest für ihn), meinte er. Wenn man kann, dann hilft man. Denn schliesslich nehme man am Tag des Abschieds aus dieser Welt nichts mit auf den Weg; nicht das Geld, nicht das Haus und auch nicht die schönen Kleider, die man trägt. Was sind denn schon 10 Mark im Hinblick darauf, dass alles vergänglich ist...

Nachtrag:

Gestern wurde ich eingeladen, der Einweihung des neuen Kühlraumes für die Rot-Kreuz Küche in Vogošča beizuwohnen. Um das tägliche Essen für mehr als 1600 Menschen zuzubereiten, bedarf es einer grossen Menge an Lebensmitteln (auch Frischprodukte), welche bisher nur schwerlich in diesen Mengen gelagert werden konnten. Dank einer grosszügigen Spende des Sankt Johannes Ordens aus der Schweiz konnte nun in Vogošča (eine Gemeinde etwas ausserhalb von Sarajevo) innerhalb von nur zwei Monaten ein grosser Kühlraum fertig gestellt werden, welcher die Logistik der Küche in Zukunft sehr vereinfachen wird.

Bevor ich im Februar nach Maribor gefahren bin, schrieb ich als freiwilliger Helfer der IKRK Küche im Namen des Roten Kreuzes einen Bericht über die Arbeit der Küche. Dieser Bericht wurde zusammen mit einigen Bildern zuhanden des Sankt Johannes Ordens in die Schweiz geschickt. Das Geld wurde gesprochen (was bestimmt auch ohne meinen Bericht wäre getan worden) und gestern fand nun also die Einweihung des neuen Kühlraumes statt.
Vertreter des kantonalen und nationalen Roten Kreuzes fanden sich ein, politische Vertreter der Gemeinde Vogošča und des Kantons Sarajevo und für die Küche der 82 jährige Refik Kravič und ich. Erwartet hätte ich die ganze Küchenmannschaft, jene Leute welche täglich acht Stunden dort arbeiten, jene welche mich anfang Januar mit ihrer ganzen Gastfreundschaft und ihrem unebzahlbaren Humor empfangen haben.
Vor dem Festessen erhielt der Vertreter des Sankt Johannes Ordens, welcher zu diesem Zweck nach Sarajevo gereist war und welcher selber jahrelang fürs Rote Kreuz gearbeitet hat, zahlreiche Ehrungen und Zertifikate von kantonaler und nationaler Stelle. Und dann wurde auch ich nach vorne gerufen. Fikret, der Sekretär des Roten Kreuzes, überreichte mir eine Bescheinigung, von Herrn Kravič persönlich ausgestellt, welche meine freiwillige Arbeit in der Küche lobt und schätzt. Es wurde applaudiert und ich durfte mit meinem Zertifikat vor einer Pressekamera possieren.

Ich bin glücklich darüber, dass man meine Arbeit dermassen lobt und schätzt, aber ich stelle mir auch die Frage, was ich denn eigentlich gemacht habe. Wem habe ich geholfen? Was konnte ich durch meine Arbeit zum besseren verändern?

Ich verliess Vogošča mit jenem fast unbeschreiblichen Gefühl, dass ich von den Menschen der Rot-Kreuz Küche viel mehr erhalten habe, als ich ihnen zu geben vermocht habe.


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